Gastkommentar

Vom Fehler, gut sein zu wollen

Peter Kufner
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Die Deutschen pflegen ihr manichäisches Weltbild. Doch Menschen sind immer beides: Unterdrückte und Unterdrücker, das Edle und das Böse.

In Deutschland demonstrierten am vorletzten Jännerwochenende rund 500.000 Menschen gegen die AfD. In den sozialen Netzwerken gab es dazu Reels und Bilder en masse. Man sang gegen den Faschismus. Man lief Seite an Seite gegen den Faschismus. Man ließ die Taschenlampen an den Handys leuchten – auch gegen den Faschismus. Das war und ist gut. Keine Frage. Aber was bedeutet denn „gegen den Faschismus“, wenn auf genau diesen Demonstrationen Banner zu sehen waren, auf denen „Zionismus ist rechts“ stand? Was bedeutet „gegen den Faschismus“, wenn faschistische Parolen auf antifaschistischen Demos kein Widerspruch sind?

Gut, besser, deutsch

Es zeigt, dass Deutschland nicht verstanden hat, dass es so etwas wie klare politische Lager gar nicht mehr gibt; dass das Problem eben nicht „der Faschismus“ ist oder „rechts“ oder „links“, sondern die Vorstellung, man könne nach wie vor Menschen oder Bewegungen in Gut und Böse unterteilen.

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Die Demonstranten jedenfalls sahen sich als „das Gute“, während sie gegen „das Böse“ auf die Straße gingen. Dieses manichäische Weltbild haben die Deutschen nicht erfunden, aber sie haben es perfektioniert. Nicht ohne Grund gibt es den bekannten Spruch, der von Kaiser Wilhelm II. während einer Rede am 31. August 1907 im Landesmuseum in Münster verwendet wurde: „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen.“ Der Satz stammt aus Emanuel Geibels Gedicht „Deutschlands Beruf“ von 1861 und steht seither für die moralische Überlegenheit der Deutschen. Wir wissen, wir können, wir sind – besser. Im Sinne von gut. Gut, besser, deutsch. Das könnte die Reihenfolge sein. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der Wahn, im Besitz einer Lösung für die Weltlage zu sein, sowie der Wunsch nach der Ausweitung der deutschen „Kampfzone“ haben historische, aber vor allem auch christliche Ursprünge. Die letzten Jahre waren in Deutschland geprägt von einem Wettrennen um das größte progressive Potenzial. „Gendergerechte Sprache“ (was auch immer das überhaupt bedeuten soll) wurde rasant in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk integriert, die Außenpolitik wurde plötzlich feministisch, Atomkraft – obwohl eigentlich dringend nötig – blieb verboten. Gleichzeitig hielt man sich mit technisch notwendigen Entwicklungen zurück und stieg eher noch auf die Bremse.

Bio, ja. Chat GPT, nein. Den Namen tanzen, ja. Leihmutterschaft, nein. An jedes Wort ein *in dranknallen, ja. Digitalisierung, nein. Diese naturverbundene Klimakleberattitüde, diese esoterische Fortschrittspanik, dieses pazifistische Weltunverständnis lassen die Deutschen vor dem Rest der Welt natürlich wie rückständige Idioten aussehen. Denn Progressivität wird in Deutschland moralisch, nicht entwicklungstechnisch gedacht.

Deshalb ist Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Profillosigkeit ein bisschen das, was Deutschland verdient hat: weder gut noch böse, sondern durchsichtig. Dabei ist die Antwort auf die Frage, wie denn die Welt nun einzuteilen ist, eben nicht neutral, sondern komplex. Und um das zu tun, muss Gut und Böse gleichzeitig gedacht und auch gleichzeitig in sich gehalten werden. Nicht aufgelöst. (…)

Wenn auf den Demonstrationen gegen „den Faschismus“ aber „faschistische Parolen“ skandiert werden, dann offenbart sich ein Dilemma, das wir anders lösen müssen als bisher. Wir können uns nicht länger anhand von simplen Gut-böse- oder Rechts-links-Achsen orientieren.

Die einfachen Antworten

Wer glaubt, das Gute in die Welt zu bringen, hat nicht verstanden, dass er selbst eben auch böse ist. Wer glaubt, alle Antworten auf große Fragen zu haben, hat nicht verstanden, dass es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Wer glaubt, im Besitz der großen Lösung zu sein, ist der Ideologie erlegen.

Schon einmal sind die Deutschen an der Komplexität der Welt gescheitert und wollten einfache Antworten, anstatt das Unerträgliche auszuhalten. Damals hatte Nietzsche den Tod Gottes ausgerufen, die Kirche war bereits zusammengebrochen. Die Moderne hatte dem Menschen individuelle Freiheit geschenkt. Eine große Überforderung, die einigen Historikern zufolge auch den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigte. (…) Wichtig war die Ausmachung des Bösen im Außen. Wenn das Böse dort ist und ich hier, dann muss ich automatisch das Gute sein. Dann ist alles richtig, was ich denke, fühle, glaube. Dann kehrt Stabilität und Ruhe in mein Sein. Dann hört die Angst auf und mit ihr das Grübeln über mich selbst.

Doch genau dort liegt der Fehler, der im Laufe der Geschichte immer wieder zu Blutvergießen, Schmerz, Verwüstung und Zerstörung führte. Wer glaubt, sich zum Gutmenschen ausrufen zu können, hat schon verloren.

Viel wichtiger wäre die Einsicht, dass wir beides sind: Unterdrückte und Unterdrücker, das Gute und das Böse. Dass wir nur durch die Erkenntnis über unsere Schattenseiten, unsere Fehlbarkeiten und unsere negativen Eigenschaften in die Nähe einer Wahrheit und einer echten Hilfestellung kämen.

Dieser Text ist zuerst in der Märzausgabe des „Pragmaticus“ (Thema „Das deutsche Drama in fünf Akten“) erschienen. Wir haben ihn leicht gekürzt. www.derpragmaticus.com.

Reaktionen an: debatte@diepresse.com

Die Autorin

Shai Levy

Mirna Funk (*1981 in Ost-Berlin) ist Autorin und Journalistin und lebt in Berlin. Zuletzt erschienen: „Who Cares! Von der Freiheit, Frau zu sein“ (dtv, 2022) und „Von Juden lernen“ (dtv, 2024)

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