Mein Dienstag

Mein Sehnsucht-Dilemma

In vielen Ländern rufen einander Personen an, weil sie sich vermisst haben – und sagen das auch.
In vielen Ländern rufen einander Personen an, weil sie sich vermisst haben – und sagen das auch. Imago
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Was ist so schwer daran, jemandem zu sagen, dass man ihn vermisst hat? Na ja … alles.

Es gibt da diese Szene in dem türkischen Film „And Then What?“ („Ya Sonra“, 2011). Hauptdarsteller Adem (Özcan Deniz) ruft seinen Vater an und sagt: „Papa, ich vermisse dich sehr. Kann ich dich besuchen kommen?“ Dieser bejaht. Beide legen auf.

Eine Szene, die in einem österreichischen, deutschen oder amerikanischen Film undenkbar wäre. Niemand würde sich mit so einem Charakter identifizieren. Die Kultur, die Sehnsucht nach jemandem so offen anzusprechen, gibt es bei uns nicht. In der türkischen, griechischen, spanischen, bosnischen, kroatischen, serbischen und in vielen anderen Kulturen hingegen schon.

Aus all diesen Ländern habe ich enge Freunde. Bis heute bin ich kurz irritiert, wenn mich jemand von ihnen „ohne Grund“ anruft. Und das auch noch offen ausspricht. „Ich wollte deine Stimme hören“, sagen manche. Türken und Griechen sagen gelegentlich auch: „Ich wollte nur deine Gegenwart spüren.“ Das ist die wörtliche Übersetzung einer gängigen Sympathiebekundung, das Pendant zum „Ich wollte nur Hallo sagen“.

Ich selbst bringe solche Sätze nicht über die Lippen. Manchmal würde ich gern, aber ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen. Als jemand, der in Österreich sozialisiert wurde, erscheinen mir solche Aussagen wesensfremd, das bin ich einfach nicht. Schon erstaunlich, wie eng Sprache und Kultur miteinander verknüpft sind. Ich muss meine Worte fühlen, um sie auszusprechen. Alles andere würde affektiert wirken. Wie jemand, der künstlich mit Akzent spricht, was immer unfassbar peinlich ist.  

Nun bin ich Gott sei Dank ausgesprochen kreativ im Erfinden von Gründen, um nicht sagen zu müssen, dass ich einfach so anrufe. Aus dem puren Verlangen, jemandes Stimme zu hören. „Du, ich wollte dich was fragen …“, sage ich dann meistens. Und stelle irgendeine Frage, die schnell beantwortet ist, damit wir ins Plaudern kommen. Das ist mir durchaus unangenehm, aber nicht so unangenehm wie die Wahrheit zu sagen.

Wieso das so ist, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen. Dieses kleine, einerseits unbedeutende, dann auch wieder so präsente Dilemma in meinem Leben ist in seiner Einzigartigkeit so identitätsstiftend und so fest zu mir gehörig, dass ich es sogar vermissen würde, wäre es irgendwann nicht mehr da.

E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

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