Filmretrospektive

„Lebensverläufe“: Ein ganzes Leben in 90 Minuten

Mallory
MalloryÖfm / Helena Třeštíková
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Kann man eine Lebensgeschichte mit allen Höhen und Tiefen im Laufe eines einzigen – oder mehrerer – Filme erzählen? Eine Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums zeigt bis 26. April faszinierende Exempel des dokumentarischen Genres der Langzeitbeobachtung.

Zwei langhaarige Jungs rasen durch das Stockholm der späten 1960er-Jahre. Mit unbändiger Energie schlängeln und schubsen sich die arbeits- und wohnungslosen Kenta und Stoffe in Fußgängerzonen durch die Passanten, die im Vergleich stocksteif wirken. Aber so was von gar nichts zu tun haben möchten die beiden jugendlichen Wirbelwinde mit diesen „Svenssons“, wie sie die braven Normalbürger um sich herum verächtlich nennen. Und zumindest in seiner dynamischen Titelsequenz, eingefangen mit einer beschwingt fließenden Kamera und Fischaugenoptik, macht sich der Kenta, Stoffe und einigen anderen jugendlichen Aussteigern gewidmete Film „Sie nennen uns Mods“ (1968) komplett mit der Rebellenattitüde seiner Hauptfiguren gemein. Deren deprimierende Kehrseite – zielloses Suchen nach Schlafplätzen in Hausfluren und eiskalten schwedischen Winternächten – der Film aber keineswegs ausspart.

„Sie nennen uns Mods“, inszeniert von Stefan Jarl und Jan Lindqvist, gehört zu den Klassikern einer Spielart des Dokumentarfilms, der das Österreichische Filmmuseum derzeit eine umfangreiche Retrospektive widmet: der filmischen Langzeitbeobachtung. Es geht im Blick auf Figuren wie Kenta und Stoffe um ein Naheverhältnis von Kino und Leben, um einen – wie auch immer – direkteren Zugriff auf zumindest einige Aspekte dessen, was unseren Alltag ausmacht: Schließlich organisieren wir unser Leben für gewöhnlich nicht gemäß handlicher 90-Minuten-Einheiten. Dokumentarische Langzeitbeobachtungen erstrecken sich oft über viele Jahre Drehzeit und umfassen ganze Serien von Filmen. Auch „Sie nennen uns Mods“ zieht zwei Fortsetzungen nach sich, sie verfolgen die Schicksale ihrer zentralen Figuren bis in die 1990er-Jahre: Eine neue Zeit, weit entfernt vom 68er-Revolutionsfuror, der im ersten Film im Hintergrund durchweg mitschwingt.

Die Jugendzeit ist am prägnantesten

Ein Schlüsselfilm der Filmmuseums-Reihe ist „Sie nennen uns Mods“ auch deshalb, weil er zwei Themen miteinander vereint, denen sich die Langzeitbeobachtungen über die Jahrzehnte wieder und wieder gewidmet haben. Das ist zum einen die Jugendzeit: Die biografischen Veränderungen, die sich vor der Kamera ausbreiten, sind im Teenageralter einschneidender und prägnanter als vorher – oder erst recht nachher. Und sei es nur, dass sich – wie etwa in Béatrice Bakhtis „Romans d’ados“-Serie, die westschweizer Jugendliche aus deutlich geordneteren Verhältnissen in den Mittelpunkt stellt – Frisuren, Kleidung und subkulturelle Kodierungen fast schon im Minutentakt ändern. Wer mit 14 vom Schwarz-in-Schwarz-Depri-Look zum fröhlichen Girlie-Pink wechselt, ist vielleicht tatsächlich ein anderer Mensch geworden. Wir älteren tun uns bei unseren Versuchen, uns neu zu erfinden, im Allgemeinen deutlich schwerer.

Zum anderen wenden sich eine ganze Reihe von Arbeiten des Genres im Anschluss an „Sie nennen uns Mods“ Menschen zu, die sich am Rand der Gesellschaft bewegen. Das gilt zum Beispiel auch für einige Werke der äußerst produktiven Tschechin Helena Třeštíková, die zu einer Spezialistin für Langzeitbeobachtungen avanciert ist und von der in Wien gleich mehrere Filme zu sehen sind. Nicht immer ganz leicht zu entscheiden, wo im Třeštíková-Kino die Grenze zwischen Empathie und Elendspornographie verläuft (oder ob es eine solche Grenze überhaupt gibt); so etwa in „Mallory“, dessen Titelfigur, eine Frau mittleren Alters, zwar vom Heroin losgekommen ist, jedoch zunächst nach wie vor auf der Straße lebt, oft mit Männern, denen man schnell anzusehen meint, dass sie ihr nicht guttun werden. Zweifellos ist die Regisseurin ihrer Protagonistin mitfühlend zugewandt – aber platziert der Film die Schicksalsschläge, die Mallory heimsuchen, gleichzeitig nicht allzu kalkuliert und effektbewusst?

Bedingungslose Nähe zu den Menschen

Andererseits: Dass man sich solchen und ähnlichen Fragen nicht entziehen kann, ist durchaus auch eine Stärke einer Form des Dokumentarfilms, die nicht auf analytische Distanz, sondern auf die bedingungslose Nähe zu einzelnen Menschen setzt. Das Ergebnis ist eine intime Vertrautheit, die einen mal ziemlich fertig machen, mal rundum euphorisieren kann, fast wie Beziehungen im echten Leben. Wer das Kino lieber mit einem High anstatt einer mittelschweren Depression verlassen möchte, dem seien besonders Kerry, Josie und Diana ans Herz gelegt; drei lebenslustige australische Working-Class-Mädels, die, von Gillian Armstrongs aufmerksamer – und in diesem Fall in der Tat komplett mit den Figuren solidarischer – Kamera begleitet zu Frauen, Müttern, Großmüttern heranreifen, dabei natürlich auch die eine oder andere Lebenskrise zu bewältigen haben, sich vom Schicksal auf die Dauer jedoch keineswegs die Laune vermiesen lassen. „Zigaretten und Lollies“ heißt der erste Film aus den späten 1970ern, „Liebe, Lust und Lügen“ der letzte aus dem Jahr 2010. Glücklich darf sich schätzen, wessen Leben sich zwischen solchen Überschriften aufspannt.

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