Interview

„Das Gehirn altert anders“

Auch als Ista-Chef weiter in der Forschung aktiv: Martin Hetzer.
Auch als Ista-Chef weiter in der Forschung aktiv: Martin Hetzer.www.peterrigaud.com
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Der Molekularbiologe – und Ista-Präsident – Martin Hetzer ergründet, wie sich Nervenzellen mit der Zeit verändern. Das könnte neue Wege weisen, um länger gesund zu bleiben.

Die Presse: Sie befassen sich wissenschaftlich mit einem Thema, das viele gern aus ihrem Alltag ausklammern: dem Altern. Was fasziniert Sie so sehr daran?

Martin Hetzer: Als ich jung war, dachte ich – wie wahrscheinlich die meisten, die jung sind –, Altern ist etwas, was erst im Alter passiert. Also muss man sich darum noch nicht kümmern. Ich laufe sehr gern, in den Vierzigern habe ich aber gemerkt, dass ich nach einem längeren Lauf oder einer Verletzung immer länger für die Regeneration brauchte. Da wurde mir klar, dass das Altern doch schon beginnt, wenn man jung ist.

Und diese persönliche Erfahrung haben Sie mit in Ihre Forschung genommen?

Ja. Trotzdem war ich lang skeptisch, ich glaubte, Altern sei viel zu kompliziert, um sinnvolle Experimente zu machen: Der Alterungsprozess verläuft bei jedem anders, es hat Hunderte Theorien gegeben, die meisten waren total irrwitzig – das Feld erschien mir undurchdringbar. Doch dann hat man gezeigt, dass sich die Lebensdauer von Organismen wie Würmern und Mäusen durch genetische Veränderungen beeinflussen lässt: Wenn man ein paar Gene verändert, können sie doppelt so lang leben. Ich dachte mir: „Wow, es gibt also wirklich molekulare und genetische Unterschiede, die offenbar die Lebensdauer und vielleicht sogar die gesunde Lebenserwartung eines Organismus bestimmen!“ Und dann haben wir 2009 eine Entdeckung gemacht, durch die wir uns plötzlich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen konnten.

Was haben Sie herausgefunden?

Zum Verständnis muss ich kurz ausholen. Das chronologische Alter sagt wenig über den Gesundheitszustand aus: Es gibt Achtzigjährige, die einen Marathon schneller laufen als Fünfzigjährige. Und es gibt Achtzigjährige, die in einem Pflegeheim liegen. Relevanter ist es, das biologische Alter eines Menschen zu bestimmen. Bis 2010 war die gängige Erklärung, wieso wir hundert Jahre werden können, dass sich die Zellen und damit die Organe in unserem Körper ständig erneuern – ihr Alter also viel, viel jünger ist.

Wo war der Haken?

Dass zum Beispiel unser Gehirn aus Zellen besteht, die sich nie erneuern. Das Gehirn entwickelt sich, bis wir ungefähr 20 Jahre alt sind, das dauert beim Menschen vergleichsweise lang, aber dann passiert nicht mehr viel in Bezug auf Zellerneuerung. Wir haben herausgefunden, dass ganz wichtige regulatorische Proteine, die wie Maschinen in diesen Zellen wirken, das ganze Leben lang funktionieren müssen, also auch nicht erneuert werden. Das war ziemlich unerwartet. Man kannte damals nur ganz wenige Proteine, zum Beispiel jene in unseren Augenlinsen, von denen man wusste, dass sie sich nie im Leben erneuern. Darum wird das Auge, wenn wir älter werden, irgendwann trüb und wir sehen nicht mehr so gut.

Das Resultat war also eigentlich ein Schock.

Ja. Das war ein völlig neuer Blick auf die Alterung von Organen. Seitdem versuchen wir zu verstehen, wie diese Strukturen erhalten werden, was mit ihnen passiert, wenn wir altern und sie beginnen, nicht mehr so gut zu funktionieren.

Sie haben das Innere einer Zelle einmal mit dem Bild einer Stadt verglichen, wo es alte und neuere Häuser gibt …

Genau. Wir machen in gewisser Hinsicht zelluläre Archäologie: Wir geben in Experimenten Isotope zu und können dann quasi archäologische Studien in Organen machen. Wie in einer Stadt können wir sagen: Das ist neu gebaut worden und hier sind noch ganz alte Strukturen, die so alt sind wie die Zelle selbst.

»Wir haben nun gezeigt, dass es im Gehirn RNA gibt, die so alt ist wie die DNA selbst. Da haben wir bisher offensichtlich ein wichtiges Prinzip der Genomorganisierung in Säugetieren total verschlafen.«

Martin Hetzer,

Molekularbiologe

Was zeigen Sie in Ihrer aktuellen „Science“-Publikation?

Eines der grundlegenden Prinzipien der Molekularbiologie ist: DNA macht RNA macht Protein – das ist das zentrale Dogma der Genetik. DNA ist dieses extrem stabile Molekül, darin ist unser Erbgut festgeschrieben. Man kann DNA aus Dinosaurierknochen oder ­Neandertalerknochen gewinnen. Diese Bibliothek unserer Gene ist also extrem stabil und ein ideales Speichermedium für genetische Information. Deshalb muss diese Information abgeschrieben werden, und das geschieht in Form von RNA. Diese wird dann in Proteine übersetzt – und die machen die eigentliche Arbeit in einer Zelle. Die längste Zeit war der gängige Glauben, dass RNA, weil sie so instabil ist, sich auch ständig erneuert. Wir haben nun gezeigt, dass es im Gehirn RNA gibt, die so alt ist wie die DNA selbst. Da haben wir bisher offensichtlich ein wichtiges Prinzip der Genomorganisierung in Säugetieren total verschlafen.

Sehr vieles ist noch rätselhaft.

Ja. Wir wissen, unser Erbgut besteht aus drei Milliarden Basenpaaren, und von denen kodieren gerade einmal zwei Prozent Proteine. Den Rest nennt man das dunkle Genom, da ist nicht genau bekannt, wofür es steht. Viele Bereiche scheinen extrem stabil zu sein, wie wir jetzt entdeckt haben, um irgendwelche Funktionen zum Erbgut hinzufügen. Aber wir wissen noch nicht, was es ist. Wir müssen auch verstehen, wieso diese RNA so langlebig ist, also was die biologische Funktion dahinter ist. Wir glauben, es hat damit zu tun, die Funktionsfähigkeit des Genoms über lange Zeiträume zu erhalten. Dann wollen wir natürlich verstehen, welche Rolle diese Moleküle im Alterungsprozess spielen. Und letztlich treibt uns die Frage um: Können wir den funktionellen Verfall verhindern oder zumindest verlangsamen?

Beobachtet wurde das für die aktuelle Studie am Mausmodell. Wie gut lässt sich von Mäusen, die ja nur zwei, drei Jahre leben, auf Menschen schließen?

Stimmt. Die große Frage ist natürlich: Ist es beim Menschen genauso? Das über einen langen Zeitraum definitiv zu zeigen ist freilich nicht leicht. Aber viele dieser grundlegenden Prinzipien der Organisation in einem Maushirn sind sehr ähnlich denen im menschlichen Gehirn. Das sehen wir in Zellkulturen, wo sich Mauszellen und Menschenzellen nicht unterscheiden. Es ist natürlich noch spektakulärer, sich vorzustellen, dass die RNA wirklich hundert Jahre hält. Das ist biochemisch gesehen schwer vorstellbar, aber es scheint so zu sein. Noch ist es aber nur eine Vermutung, wir haben das nicht bewiesen.

Sie machen Grundlagenforschung, die Beschreibung Ihrer wissenschaftlichen Ziele klingt aber durchaus nach dem Schielen in Richtung Anwendung. In der Beschreibung Ihrer Arbeitsgruppe am Ista steht, die von Ihnen erforschten Mechanismen sollen sich nutzen lassen, um den altersbedingten Verfall von Organen mit begrenzter Zellerneuerung wie Gehirn, Bauchspeicheldrüse und Herz zu verzögern. Wie weit klaffen da Wunsch und Wirklichkeit auseinander?

Da fehlt natürlich noch ein Stück. Wir sind erst dabei, diese Mechanismen zu entdecken, durch die Zellen hundert Jahre leben können. Das ist noch immer sehr grundlegende Arbeit. Aber wenn wir herausfinden, was passiert, wenn Zellen älter werden, also warum bestimmte Proteinmaschinen nicht mehr funktionieren, dann haben wir zumindest einen neuen Ansatz zum Verständnis der Mechanismen des Alterns. Bis jetzt hat sich fast alles in der Forschung mit Stammzellerneuerung beschäftigt. Das Halten von Zellen über einen Zeitraum von hundert Jahren ist eigentlich total stiefmütterlich behandelt worden. Wir öffnen da eine neue Tür. Es hat sich in der Geschichte immer wieder bewiesen: Wenn man einmal versteht, wie etwas funktioniert, dann kann man etwas dafür oder dagegen machen. Aber freilich: Von einem Medikament gegen das Altern sind wir noch sehr weit entfernt.

So mancher, der das hört, mag dennoch auf einen Jungbrunnen hoffen. Was sagen Sie solchen Menschen?

Viele Studien zeigen, dass der Alterungsprozess nicht ein einheitlicher Prozess in einem Organismus ist. Wir empfinden Altern als etwas Gesamtheitliches und machen das etwa an der Haut oder der Leistungsfähigkeit eines Menschen fest. Das Spannende ist jedoch, dass das Gehirn anders altert als das Immunsystem oder einzelne Organe. Der Jungbrunnen kann vielleicht bedeuten, dass wir nicht ewig leben oder ewig jung bleiben, aber doch die gesunde Lebenserwartung verlängern können durch gezielte Interventionen. Das ist mein Ziel. Und Interventionen kann man besser setzen, wenn wir verstehen, was biologisch vorgeht in den einzelnen Organen. Unsere Forschung könnte sich besonders für das Gesunderhalten des Gehirns als hilfreich erweisen.

Wenn man sich so wie Sie so viel mit dem Alter befasst, wie wirkt sich das auf den eigenen Lebensstil aus? Und: Haben Sie Ratschläge, wie man die biologische Uhr am besten beeinflusst?

Ich folge den generellen akzeptierten Ratschlägen: Körperliche Ertüchtigung ist ganz wichtig. Viele Studien zeigen, dass selbst relativ geringe, aber regelmäßige körperliche Tätigkeiten gesundheitsfördernd und lebensverlängernd sind. Eine ausbalancierte, ausgeglichene Ernährung ist zentral. Und – was für viele nicht so leicht zu erreichen ist: viel und guter Schlaf. Dazu muss man versuchen, Stress in den Griff zu bekommen. Da muss jede und jeder eine eigene Strategie finden. Der Schlaf ist extrem bedeutsam, weil sich dabei das Gehirn massiv regeneriert, also sehr viele Abfallprodukte ganz ausgeschwemmt werden. Das ist auch für die Vorbeugung von Demenz sehr wichtig.

Zur Person

Martin Hetzer (58) ist gebürtiger Wiener. Der Molekularbiologe war ab 2004 am Salk Institute for Biological Studies, Kalifornien, tätig, zuletzt als Senior Vice President. Seit 2023 ist er Präsident des Institute of Science and Technology Austria (Ista). In einer aktuellen Publikation im Fachmagazin „Science“ zeigt er mit Kollegen, dass RNA-Moleküle in Gehirn-Nervenzellen ein ganzes Mäuseleben lang halten.

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