Mein Dienstag

All das Verlorene, von dem wir nichts wissen

Viel mehr blieb von der Pracht des Coudenberg-Palasts nicht übrig als solche Ofenkacheln.
Viel mehr blieb von der Pracht des Coudenberg-Palasts nicht übrig als solche Ofenkacheln.Musée du Coudenberg
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Wie soll man über unwiederbringlich Zerstörtes denken, das man nicht kennen kann?

Meisterwerke von Rubens, van Eyck, Tizian, Bruegel: alle ein Raub der Flammen. Stets, wenn ich die Place Royale in Brüssel überquere, muss ich daran denken, welche Kunstschätze vor fast 300 Jahren genau hier verbrannt sind. In der Nacht auf den 4. Februar 1731 brach im Palais Coudenberg, einem der schönsten Renaissancepaläste Europas, ein Feuer aus, welches mangels Löschwasser (gefrorene Löschteiche) und wegen Standesdünkel (die Bürgerwehr durfte den Brandherd, die Gemächer der Generalstatthalterin der Niederlande, Maria Elisabeth von Österreich, Schwester von Kaiser Karl VI., nicht betreten) 500 Jahre Bau- und Kulturgeschichte vernichtete.

Mir will diese Katastrophe vor allem darum nicht aus dem Kopf, weil wir nicht einmal wissen, welche Gemälde der genannten Meister hier zerstört wurden. Wir wissen nur, dass, von den Burgunder-Herzögen angefangen, einige der mächtigsten und großzügigsten Förderer und Sammler der Künste hier residiert haben. Ein Inventar gab es aber nicht. Was nur ist uns Freunden des Schönen da verloren gegangen?

Zu wissen, dass man etwas Wertvolles für immer verloren hat, es aber nicht genau benennen zu können, ist eine besondere Art der seelischen Qual. Am Sonntag sah ich Bilder der zwölfjährigen Yana Stepanenko aus der Ukraine, die beim heimtückischen russischen Bombenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk vor fast zwei Jahren (63 Tote, 150 Verletzte) beide Beine verloren hatte. Sie lief in Boston ein Fünf-Kilometer-Rennen mit Prothesen, um Geld zu sammeln, damit sich der ukrainische Soldat Oleksandr Ryasny ebenfalls Beinprothesen leisten kann. Welches Leben hätte ­Yana, hätte Oleksandr gehabt, hätten die Russen die Ukraine nie angegriffen? Ein banales vermutlich, gewiss ein viel glücklicheres. Ich wünschte, ich müsste mir über ihren Verlust nicht den Kopf zerbrechen.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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