Gastkommentar

Bei EU-Wahlen sind Vorzugsstimmen Goldes wert

(c) Peter Kufner.
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Alle Parteien sollten schon bei der EP-Wahl ihre Listen so gestalten, dass es Anreize gibt, per Vorzugsstimme zu wählen.

Im Juni stehen die EU-Wahlen an, eine erste bundesweite Probe der Kräfteverhältnisse. Bisher wird von politologischer Seite und von der Meinungsforschung ein klarer Wahlsieg der FPÖ prognostiziert, was nicht so sehr der Überzeugungskraft der blauen Spitze als der Einfallslosigkeit, Inkonsequenz und Zerstrittenheit ihrer Gegner zuzuschreiben ist. Fallen die Ergebnisse für ÖVP und SPÖ unter eine akzeptable Schwelle, so könnte dies sogar Auswirkungen auf Parteiführung und eine nachfolgende „Neuaufstellung“ für die Nationalratswahl als Mutter aller Schlachten haben; somit wären alle politischen Kräfte gut beraten, statt ihre Gegner zu dämonisieren, lieber bereits bei der EP-Wahl ihre Listen so zu gestalten, dass es auch Anreize für die Wahlberechtigten gibt, per Vorzugsstimme Köpfe zu benennen, denn Charisma und Kompetenz der bisherigen Bewerber sind enden wollend.

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Rainhard Kloucek hat es („Mehr, nicht weniger Parlamentarismus wagen“, „Die Presse“ 27.2.2024) sehr treffend formuliert: Die MEPs vertreten nicht ihr Land, sie sollen europäische Politik betreiben. Aber sie mögen dabei dennoch in Zeiten beginnender europäischer Apathie unsere Leitlinien im Kopf behalten, es gibt ja auch Konsens, etwa zu Atomkraft und Beibehaltung der „differenziellen“ Neutralität, vielleicht gewinnen auch Pazifismus und Energie-Vernunft wieder Oberhand.

Fünf-Prozent-Regel

Wer Einwände gegen die Listenreihung hat, kann bei EP-Wahlen per Vorzugsstimme Einfluss auf die Mandatsvergabe nehmen und womöglich das Ergebnis mitgestalten. Das könnte gerade diesmal interessant werden. Aufgrund der 5-Prozent-Regel in Relation zur Parteisumme bedeutet dies, dass die für eine Vorreihung notwendige Stimmenanzahl durchaus in Reichweite ist, vor allem bei den kleineren wahlwerbenden Gruppen.

Im Jahr 2004, als die FP nur 159.000 Stimmen erreichte und die damaligen Großparteien je 33 % sowie Liste Martin und Grüne je doppelt so viele wie die Blauen, hat FP-Kandidat Andreas Mölzer, obwohl damals noch die 7-Prozent-Klausel galt, das einzige blaue Mandat erlangt. Und dies obwohl er nicht Listenerster, sondern Drittgereihter war. Ausschlaggebend waren rund 22.000 Vorzugsstimmen, denen der erstgereihte Kandidat, Dr. Johann Kronberger, nur 9000 (gerundet) entgegensetzte. In Prozenten von der Parteisumme waren das 13,9 % für Mölzer, mit denen er die 5,7 % Kronbergers und die 1000 Vorzugsstimmen des zweitgereihten Dr. Franz Großmann locker überbot.

Der Verfassungsgerichtshof wies die Anfechtung des erstgereihten Bewerbers Dr. Kronberger als verspätet zurück (VfSlg 17.259/2005). Und der Gesetzgeber setzte den Prozentsatz in der EuWO sogar noch weiter herunter. Die Wahlzahl betrug damals 119.074, aber diese darf, wie der EuWO-Kommentar von Stein/Vogl/Wenda richtig besagt, nicht der Listenerste für sich vereinnahmen, wenn er weniger Vorzugsstimmen als der Nachgereihte erreicht. Somit ist die Reihung der Parteien nur dann maßgeblich, wenn (Vorzugs-)Stimmengleichheit herrscht oder niemand die 5-Prozent-Hürde der Parteisumme knackt.

Im B-VG einzementiert

In Österreich gilt für sämtliche staatliche Wahlen (außer jene des Bundespräsidenten und der Bürgermeister in manchen Bundesländern) das Verhältniswahlsystem. So hat der Verfassungsgesetzgeber Ende 1994 den Proportionalitätsgrundsatz auch für die EP-Wahlen festgelegt, sodass dieser im B-VG „einzementiert“ ist. Die Angst vor Experimenten in Richtung Mehrheitswahl war zu groß, obwohl gerade bei der überschaubaren Zahl von 18 bis 19 Mandaten (je nach künftigen Erweiterungen/Austritten/Festlegungen der Abgeordnetenzahl) ein Persönlichkeitswahlkampf ein interessantes Thema wäre. Das würde nämlich auch bedeuten, dass die Wählenden „ihre“ Abgeordneten besser kennenlernten, was derzeit bestenfalls für die Listenersten gilt.

Was 2019 passiert ist

Doch gerade hier haben die Parteien das letzte Mal entweder wissentlich getrickst, oder sie sind doch nolens volens längerfristig von ihren ursprünglich gewählten Mandataren abgerückt. Manche erinnern sich noch daran, was 2019 passierte. Es bewarb sich für die ÖVP als Listenerste Dr. Karoline Edtstadler, die vor dem EP-Urgestein (seit 1999 EP-Abgeordneter) Dr. Othmar Karas gereiht war; sie verblieb vom Juli 2019 bis Januar 2020 im EP, gewählt wurde sie aber für eine fünfjährige Periode.

Heinz-Christian Strache, der weit hinten gereiht war, aber genügend Vorzugsstimmen erhielt, wurde ein Mandat zugewiesen, das er nicht annahm. Schließlich gewann auch Werner Kogler, der grüne Spitzenkandidat der EP-Wahl, ein Mandat, im Jahr 2020 rückte der nunmehr zweitgereihte Landwirt Thomas Waitz auf ein Mandat nach.

Ein Schelm, wer hier nicht vermuten würde, dass die Parteien ihre Wählerinnen und Wähler nicht sonderlich ernst nehmen, auch wenn die Grünen offenbar ein Problem hatten, eine geeignete Persönlichkeit für das Vizekanzleramt zu finden. So musste Kogler als Parteichef gleich zur nächsten Baustelle, als die sich die türkis-grüne Regierung erwiesen hat. Diese zwei Farben passen übrigens nicht einmal im Malkasten zusammen.

Die SPÖ und die Neos, die auf Bundesebene in Opposition stehen, haben an diesem Spiel nicht teilgenommen, Claudia Gamon zog in das EP ein, und das wird im Falle eines Wahlerfolgs auch für Helmut Brandstätter gelten; es sei hier auch bemerkt, dass sich Andreas Schieder als kompetenter und besonnener Europapolitiker gezeigt hat, es passt daher schon, dass er wieder die rote Liste anführt – andere sind allerdings weniger bekannt; so entging es etwa vielen, dass die Tiroler SP-Abgeordnete Theresa Muigg sich Ende 2022 verehelichte und seither als Theresa Bielowski aktiv ist, weil sie schon zuvor kaum auffiel, womöglich ohne ihre Schuld; von ihr gibt es nicht einmal ein Foto auf der Parlamentshomepage, was schon extrem anmutet, da man vom Sehen ohnehin höchstens ein gutes Drittel der 19 Mandatare kennt, wie z. B. den nachgerückten Ex-ORFler Mag. Wolfram Pirchner.

Aber Christian Sagartz (ÖVP) und Dr. Angelika Winzig (ÖVP), Dr. Günther Sidl (SPÖ) und Hannes Heide (SPÖ) sind nur einem winzigen Kreis bekannt. Dasselbe gilt für Mag. Roman Haider (FPÖ) sowie Dr. Georg Mayer (FPÖ).

Koglers Prätorianergarde

Wer also den Parteien misstraut, wofür es genug Anlässe gibt, sollte bei der EP-Wahl auf Vorzugsstimmen setzen. Auf „unwählbaren“ Listenplätzen finden sich vielfach geeignete Bewerber, die politisch-publizistisch, fachlich-organisatorisch und sogar mit Auftritten in europäischen Gremien aufgefallen sind. Übrigens auch junge und bemühte Politiker, die sogar mehr zu verbuchen haben als elegante Auftritte im Reigen der Klimaschützer.

Sollte es also zur Rückkehr der Tanzlehrerin nach Wien kommen, hätten auch die Grünen einige Aspiranten im Listen-Ärmel, nur haben sie diese nicht einmal hergezeigt, was den jubelnden Corpsgeist der Koglerianischen Prätorianergarde etwas zweifelhaft erscheinen lässt.

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Der Autor

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Ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Strejcek (* 1963), Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Uni Wien, behandelt Fragen des Wahlrechts, Staatsrechts sowie öffentlichen Wirtschaftsrechts und publiziert zu Recht und Literatur.

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