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Liam Bailey, der verlorene Sohn des britischen Reggae hat sich gefunden

Liam Baileys neues Album heißt „Zero Grace“.
Liam Baileys neues Album heißt „Zero Grace“. Louis Boo
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Über Umwege wurde der Reggae- und Soulsänger Liam Bailey zur internationalen Größe. Amy Winehouse erkannte als Erste sein Talent.

Um es mit einer Fußballmetapher zu sagen: Manche brauchen mehr Chancen, um den Ball im Tor unterzubringen. Liam Bailey, ein aus Nottingham gebürtiger, jamaikanisch-stämmiger Sänger und Komponist, ist so ein ineffizienter Scorer, was die eigene Kunst anlangt. Den ersten Elfer, den hat ihm tatsächlich Amy Winehouse aufgelegt, indem sie ihm 2010 mit ihrem Label Lioness Records eine erste Veröffentlichungschance gab. Die zwei EPs – sie enthalten zu wenige Stücke, um als vollständiges Album zu gelten – versickerten, wohl auch, weil Liam Bailey ein fatales Talent zur Selbstsabotage hat(te).

Statt für pfiffige Arrangements zu sorgen, hing er lieber mit der damals schon außer Kontrolle befindlichen Queen of British Soul in Kaschemmen ab und dröhnte sich zu. Auch das renommierte Label Polydor versuchte, ihm eine Existenz als Albumkünstler schmackhaft zu machen. Auch ein von Amy-Winehouse-Co-Writer Salaam Remi fertig produziertes Werk verschwand im Archiv. Obwohl die wahren Gründe dafür nie bekannt wurden, ist anzunehmen, dass es wohl zu gelackt in Richtung R&B ausfiel. Bailey präferiert eher das Ungeschliffene.

Es sollte drei weitere Jahre dauern, bis er endlich sein Debütalbum fertig hatte. Hauptproblem war wohl, dass sich Bailey nie so richtig für einen Stil entscheiden konnte. Zu oft ließ er sich für Wald-und-Wiesen-Projekte als Gastsänger engagieren. Das Fatale war, dass er, auch ohne mit vollem Herzen dabei gewesen zu sein, enorm gut klang. Exakt das behinderte den Weg zum eigenen Sound. Als wilder, junger Mann kollaborierte er lieber mit Drum´n´Bass-Kräften wie Shy FX und doch recht furchtbaren EDM-Krachmachern wie Chase & Status. Mit Letzteren kam er erstmals in die Charts. Das 2011 gemeinsam mit Chase & Status gebastelte „Blind Faith“ wurde ein Top-5-Hit. Das Scheinwerferlicht teilte er in diesen Jahren auch durchaus gern mit der Popsängerin Paloma Faith. Dafür wurde er gefeiert, aber letztlich lenkte es ihn von der eigenen Bestimmung ab.

Spontane Wortkaskaden

Bis Bailey seinen kulinarischen Mischstil aus Reggae, Blues, Soul und ein paar Tupfern Rockgitarre entwickelt hatte, sollten noch einige Jahre ins Land gehen. 2020 war es endlich so weit, dass er tatsächlich ein Meisterwerk schuf. Es nannte sich „Ekundayo“ und begann mit einer herrlich verschlafenen Ballade namens „Awkward“. Eine unglaubliche Schrumm-Schrumm-Orgel umspielte da die scharf klingende Stimme Baileys. Neue Reife war in ihr reflektiert. Sein neuer Bruder im Geiste, der Amerikaner Leon Michels, der auch das neue Norah-Jones-Album Richtung Retro-Soul getrimmt hat, stellte als Produzent die Weichen für Liam Baileys feinen Stilmix.

Besonders angetan war Michels davon, dass Bailey im Studio zu jedem kleinen Groove spontan Wortkaskaden aus dem Unbewussten abrief. „Was zu Beginn für mich wie Kauderwelsch klang, erwies sich als reflektiert und sehr persönlich“, freut sich Michels, der das erfolgreiche Soullabel Big Crown leitet, das mit Lady Wray und Bobby Oroza weitere namhafte Künstler unter Vertrag hat.

Jetzt präsentierten Michel und Bailey mit „Zero Grace“ ihr zweites gemeinsames Werk. Die Trompeten seufzen, die Bassgitarren ächzen, überhaupt grammelt und schrammelt es herrlich rau. Trotz üppiger Instrumentierung entsteht paradoxerweise ein Low-Fi-Sound, der auch Stilikonen wie Paul Weller gefällt. Jüngst lud er Bailey gar zu sich auf die Bühne der Shepherd‘s Bush Arena, um gemeinsam Baileys neuesten Ohrwurm „Dance With Me“ zu performen. „I came in with a broken heart, with thoughts of making a brand new start, I looked around, and there you were.”

In reizvollem Kontrast schwärmten die ungleichen Musiker von der existenzwendenden Kraft der Liebe. Glühendes Gitarrensolo, trunken tönende Bläsersektion und zwitschernde Orgel – der ideale Hintergrund für eine der charismatischsten Stimmen der Gegenwart. In puren Reggae-Songs wie „Canary In The Coal Mine“ und „Sekkle Down” erinnert diese an die jamaikanischen Größen des Soul-Reggae-Crossover. Trotz gesellschaftskritischer Inhalte – Bailey adressiert Rassismus und Armut – lädt die Musik zum Genuss. Einen Cocktail dazu zu schlürfen, löst keine unkalkulierbaren Gegenwirkungen aus. Nicht einmal ein schlechtes Gewissen.

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