Konzertkritik

J Balvins überdimensioniertes Ego bringt Wien zur kollektiven Klimax

J Balvin beim Coachella-Festival in Kalifornien – in Wien war sein Bühnenoutfit heller.
J Balvin beim Coachella-Festival in Kalifornien – in Wien war sein Bühnenoutfit heller. APA
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Der kolumbianische Reggaeton-Star begeisterte am Freitag 6000 Fans in der Stadthalle. Am Ende hielten sich Jubel und Erschöpfung die Waage.

Peitschendes Licht, klappernde Rhythmen, dann erklang J Balvins Schlachtruf: „Uno, dos, tres, leggo!“ Sogleich priesen er und sein Hilfsrapper mit „Mi Gente“ die eigene Kunst, die auf abenteuerliche Art Reggaeton und Latin Trap fusioniert. Die einzelnen Elemente sind wüst zusammengestoppelt, wie die Wellblechhütten in den Favelas Südamerikas. In dieser vitalen Musik koexistieren unversöhnliche Kontraste und rare Harmonie, die Egos ihrer Helden sind verlässlich überdimensioniert: „Die Welt ist groß, aber ich habe sie in meinen Händen“, brabbelte J Balvin etwa. Als Rapper hat er viel rhythmisches Feingefühl, als Tänzer weniger. Mit seinen reduzierten Bewegungen wirkte er fast wie ein singender Humanoid, doch seine Verheißungen waren recht menschlich: „Die Party wird nie enden, die Flaschen sind voll.“

Etwa 6000 Besucher waren in die Stadthalle gekommen, um einen der größten Helden der zeitgenössischen Latinmusik erstmals live in Wien zu sehen. Vor Konzertbeginn gab es ein Ohrenreiberl vom DJ. Mit viel Gusto spielte er Klassiker von Daddy Yankee und Don Omar, den Veteranen des Reggaeton, dieses Mischstils aus Merengue, Ragga und Hip-Hop. Jede neue Generation würzte mit weiteren Zutaten.

Melancholie, die zum Tanzen anregt

J Balvin zählt zur Speerspitze jener, die viel Elektronik einsetzen. Im vergangenen Jahrzehnt hat dieser Sound auch die USA und Europa erreicht, mithilfe von Duetten, wo Größen wie Nicki Minaj und Rosalia bei der Popularisierung mithalfen – aber auch dank Produzenten wie Pitbull, Rappern wie Swizz Beatz und Mainstreamkünstlern wie Ricky Martin und Shakira.

Die größten Reggaeton-Stars sind der Puerto Ricaner Bad Bunny – und eben der Kolumbianer J Balvin. Mit ihrem gemeinsamen Album „Oasis“ setzten sie 2018 neue Standards, die vor Vitalität sprudelnde Allianz schaffte das Cross-over zum herkömmlichen Pop. Zwei Lieder dieses Meisterwerks waren auch Highlights in Wien. Im butterweichen „La Cancion“ erinnerte sich J Balvin an heiße Nächte mit einer Frau zurück, die längst aus seinem Leben verschwunden ist. Der Rhythmus ist verhalten, dennoch lockt der Song zum Tanz. In der Fantasie des Sängers flackert die Idee einer Fortsetzung der Liebesaffäre auf. Es bleibt eine Illusion. Am Ende bekennt er: Sein Herz ist leer. Solche Songs nennt man „Sad Bangers“, sie bringen die Melancholie auf die Tanzflächen.

Der zweite Song von „Oasis“ war die totale Überraschung, er stand nicht auf der Setlist anderer Konzerte in Europa: Das herrlich vertrackte „Como un Bebé“, in dem viele Probleme gewälzt werden, die bei polyamorem Lebensstil so auftreten. Das Lied hat ein Happy End: Es ist der gemeinsame Tanz, der Harmonie bringt. Dazu passend durfte ein weiblicher Fan auf der Bühne und mit J Balvin wiggeln und wackeln, dass es nur so eine Freude war.

In den meisten anderen Songs übernahm eine fidele, abenteuerlich auf Alien kostümierte Tanztruppe diese Aufgabe. Kollektive Klimax verursachten Lieder wie „Ritmo“, das J Balvin ursprünglich mit den Black Eyed Peas aufnahm. Und „Que Calor“, eine Zusammenarbeit mit Major Lazer. Am Ende, als die Flaschen leer waren, hielten sich Jubel und Erschöpfung der Fans die Waage. Mehr geht nicht.

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