Sibirische Mumien: Klimawandel stört Totenruhe

Skythengräber in Sibirien sind von der Erwärmung bedroht, bevor sie noch - mit österreichischer Hilfe - erforscht werden können.

Selbst die Toten könnte der Klimawandel um ihre Ruhe bringen, etwa dort, wo die Erwärmung die Hänge des zentralasiatischen Altai-Gebirges zum 2200 Meter hohen Ukok-Plateau hinauf wandert und die Böden auftaut, in deren Permafrost sibirische Skythen 2500 Jahre lang vor den Launen von Natur und Geschichte geschützt waren. "Wir haben einige Zeit keine Gräber geöffnet, aus ethischen Gründen und weil wir genug mit der Aufarbeitung der früheren Funde zu tun hatten", berichtet Anatolij Derevianko, Direktor der Archäologischen Abteilung des sibirischen Zweiges der Russischen Akademie der Wissenschaften in Novosibirsk: "Aber wenn die Erwärmung sich fortsetzt, werden wir in Notgrabungen retten müssen, was noch zu retten ist."

Kunst der Einbalsamierung

Zu retten sind einzigartige Mumien und Grabbeigaben, die ihre Erhaltung der eisigen Umwelt verdanken. Zwar waren die nomadisierenden Hirten und Reiter auch Meister in der Kunst der Einbalsamierung ihrer Toten - die inneren Organe und teilweise auch die Muskeln wurden entfernt und durch Ballen aus Gras und Wolle ersetzt, außen wurden die Körper mit noch nicht identifizierten Chemikalien behandelt. Aber das Klima war stärker, in den meisten Gräbern zerfiel bei der ersten Berührung vieles zu Staub. In einigen Eisgrüften hingegen blieb alles konserviert: Die sibirischen Skythen hatten auf dem Hochplateau ihr Winterquartier, dort bestatteten sie auch ihre Toten, in metertiefen Kammern im Boden. Die hölzernen Särge kamen in regelrechte Häuschen mit Holzwänden und -dächern, die mit Steinen bedeckt wurden. Dann kam der Schnee. Dann kam das Frühjahr, Schmelzwasser sickerte ein, füllte die Särge oder die ganzen Häuschen und gefror in der eisigen Erde zu einem einzigen Block.

Beim Öffnen gab das Eis vieles frei, was man aus anderen Skythengräbern bereits kannte: Den Toten hatte man Pferde mitgegeben und reichlich Goldschmuck. Aber das Eis hatte auch konserviert, was in anderen Gräbern zerfallen war: organisches Material. Das reicht von Speisen für die Reise in ein Jenseits - fetten Schafsschwänzen etwa - über vergoldete Schmuck- und Gebrauchsgegenstände aus Holz bis hin zu Kleidungsstücken aus Pelzen, Filz und Seide.

Konserviert wie Lenin

In sie gehüllt waren die Mumien: Drei davon trugen spektakuläre Tätowierungen: Ornamente, Fabeltiere, Jagdszenen. Manche der mit Ruß meist in die Schultern eingestichelten Muster sind bei allen drei Mumien identisch, was die Forscher als kulturellen Code der schriftlosen Kultur interpretieren: Auf den nicht bekleideten Schultern waren die Symbole gut sichtbar.

Aber nach dem Ausgraben verblaßten die Mirakel rasch. Nur eine Wissenschaft, die in der Sowjetunion im 20. Jahrhundert bei der Pflege der unsterblichen Führer des Proletariats eine späte Blüte erlebte, konnte helfen: Die Mumifizierer vom Lenin-Mausoleum (heute: Zentrum für biomedizinische Technologien) ließen die Tätowierungen wieder sichtbar werden und brachten die Mumien in einen so guten Zustand, daß sie bei Raumtemperatur und jederzeit zugänglich aufbewahrt werden können. "Die Körper sind noch flexibel", berichtet Derevianko, "die Haut ist weich."

Manche Arbeiten sind schon durchgeführt - die DNA-Analyse etwa zeigte eine enge Verwandtschaft mit ungaro-finnischen Völkern -, bei anderen wird ab sofort eine internationale Zusammenarbeit unter österreichischer Federführung helfen. "Wir haben diesen Juni mit den sibirischen Kollegen einen Kooperationsvertrag abgeschlossen", berichtet Horst Seidler, Anthropologe an der Uni Wien: "Das hat lange gedauert, auch aus finanziellen Gründen. Aber jetzt kann mit Unterstützung des Rats für Forschung und Technologieentwicklung im November die gemeinsame Arbeit losgehen." Die wird sich zum einen direkt mit den sibirischen Eismumien befassen - sie auch mit anderen vergleichen, mit Ötzi etwa -, zum anderen werden die Wiener Forscher ihre sibirischen Kollegen mit modernen technischen Methoden der Anthropologie vertraut machen.

Und dann sollen sie, die Mumien, die im entlegenen Novosibirsk ruhen, auf die Reise gehen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden: "Im Jahr 2004 kommen sie zur wissenschaftlichen Bearbeitung und auch zu einer Ausstellung nach Österreich", hofft Seidler.

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