Die verlorene Ehre der Blutrache

Vom Schwarzen Meer bis Meidling: Nicht nur die Polizei, auch die Ethnologie tut sich schwer mit dem Verfall des alten Rechtsinstruments der Blutrache.

"Ins wilde Kurdistan fühlt sich die Wiener Polizei versetzt, da zwei verfeindete türkische Sippen mitten in der Bundeshauptstadt eine Blutrache mit Messern und Pistolen ausfechten ... Beim neuesten Racheakt wurde der 28jährige auf offener Straße von sechs Kugeln durchsiebt", berichtete die Kronen Zeitung in ihrer Journalistenpoesie am 2. März 1977. "Damit wird suggeriert, daß die blutdürstigen Wilden vom Balkan sich einfach so abschlachten", erklärt Ethnologin Barbara Danczul (Uni Wien), "und das möchte ich schon abwehren."

Was allerdings wirklich passiert ist und vor allem warum es passiert ist am Tag zuvor im 12. Wiener Bezirk, ist gar nicht so einfach zu rekonstruieren. Das liegt zum einen an der Quellenlage - "in den Polizeiprotokollen geraten oft die Namen und Verwandtschaftsverhältnisse durcheinander", berichtet Danczul: "Und generell ist die Wiener Polizei wenig mit dem vermutlichen Tathintergrund vertraut: dem ,hier ungewohnten Ehrbegriff'". So formulierte es ein Protokollführer, als die Ermittler bei Einvernahmen wieder einmal an kulturelle Grenzen stießen.

Aber beides erklärt nur wenig, auch Danczul ist bei ihrer Erforschung weniger zur Klärung des alten Falls und mehr zu neuen Fragen gekommen. Begonnen hat alles 1967 in Carsamba, einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste. Dort fand man das Oberhaupt der Familie A, zugleich Dorfvorsteher und damit von hohem sozialem Rang, erschlagen auf einem seiner Felder. Der Verdacht der Familie A richtete sich gegen Familie B, und theoretisch hätte nun das archaische Rechtsverfahren der Blutrache in Gang kommen sollen: Ein Mitglied der Familie A, ausgesucht vom nun ranghöchsten Mitglied dieser Familie, hätte ein Mitglied der Familie B töten müssen, nicht unbedingt den vermuteten Mörder, eher einen im gleichen sozialen Rang wie den Ermordeten. Dann wäre wieder Familie B am Zug gewesen - respektive am Abzug: Blutrache ist kein offener Kampf, sie wird gerne aus dem Hinterhalt mit Schußwaffen genommen.

"Es kann sein, daß das alte Rechtsinstrument unter den Bedingungen der Migration kraftlos wird."

Dann wieder Familie A, und so weiter: Die Rache muß genommen werden, sonst ist die Ehre der gesamten Familie des (letzten) Opfers auf Dauer verletzt. Aber die Rache wird durch das Gewohnheitsrecht in geregelte Bahnen geleitet. Die führen zwar irgendwann, soferne es nicht zu einem Verhandlungsfrieden kommt, zur partiellen Ausrottung einer der Familien.

Aber nicht zur sofortigen und nicht zur völligen: Das Rechtsinstrument der Blutrache soll Überschußreaktionen eindämmen und Komplementarität sichern, genau so, wie das alttestamentarische "Aug' um Auge, Zahn um Zahn" verhindern soll, daß für ein eingeschlagenes Auge mehr eingeschlagen wird als ein anderes Auge. Zudem ist die Blutrache reine Männersache, andere Familienmitglieder sind als Opfer ausgeschlossen, Alte, Frauen, Kinder. Erst wenn eines von ihnen zum Mann herangereift ist, kann der nächste Schlag erfolgen, oft so spät, daß sich auf beiden Seiten niemand mehr an der Ursprung der Fehde erinnert. So beschreibt es wenigstens die Wissenschaft in Feldstudien etwa in der Türkei.

In der Fehde der Familien A und B erfolgte der Gegenschlag denn auch prompt, dann war lange Ruhe, was in das Schema paßt, da auch in geschwächten Familien erst ein neuer Vollstrecker heranwachsen muß oder ein Bluträcher in staatliche Gefängnisse geraten kann und die Gegenseite seine Freilassung abwartet.

Aber als die Fehde sich 1976, nach elf Jahren, fortsetzte, paßte nichts mehr in das Ethnologenbild: Mitglieder beider Familien waren zur Arbeit in die Fremde gezogen, nach Wien und Berlin. Und ausgerechnet die Familie, die mit der Rache an der Reihe gewesen wäre, vollzog sie nicht, stattdessen wurden mehrere ihrer Mitglieder nacheinander von der anderen Familie ums Leben gebracht, einmal gar eine Frau angegriffen.

"Es kann sein, daß die Theorie der Blutrache mit ihrer Praxis doch nicht so übereinstimmt, wie das die rechtsanthropologische Literatur vorsieht", erwägt Danczul, "es kann aber auch sein, daß das alte Rechtsinstrument unter den Bedingungen der Migration kraftlos wird und zerfällt." Denn die Gemeinschaft, die zu ihrer Stabilisierung den Ehrbegriff hoch hält und über die Einhaltung des Rechts wacht, existiert allenfalls noch ferne im Heimatdorf in der Türkei, nicht aber in der großen Stadt im Westen. Und auch die alten Rollen verlieren an Kraft - oft sind (vermutete) Belästigungen von Frauen Auslöser des Ganzen -, wenn die Frau nicht mehr das Haus hütet, sondern zur Arbeit in die Fabrik geht.

Was es wirklich ist, läßt sich am Wiener Fall nicht mehr klären, die Daten sind dünn, Beschuldigte und Zeugen schwiegen vor der Polizei - aus Furcht vor Abschiebung, wohl auch in Erinnerung daran, daß man nach altem Recht die Dinge unter sich regelt. Und Ethnologen, gar Ethnologinnen geben sie erst recht keine Interviews.

Danczun unternimmt daher im Rahmen eines Wittgenstein-Stipendiums einen neuen Anlauf in Oberägypten, wo sie vor allem erforschen will, wie die unterschiedlichen Rechtssysteme - das uralte Gewohnheitsrecht der Blutrache, das alte islamische Recht und das des modernen Staates - einander beeinflussen, ineinander übergehen. Und sie interessiert sich für einen Spezialfall, dessen Hauptpersonen auskunftsfreudiger sind: Schlichtungsversuche und ihre Initiatoren, professionelle Mediatoren. Sie bringen die Familien in Verhandlungen, die den blinden Lauf der Gewalt abbrechen sollen, etwa durch Zahlung eines Blutgeldes.

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