Trojanische Pferde für Medikamenten-Transport

Die "Blut-Hirn-Schranke", die Therapien erschwert, soll mit den Mitteln der Natur überwunden werden.

Über 600 Kilometer Blutgefäße ziehen sich durch das Gehirn und bilden ein so feinmaschiges Netz, daß man theoretisch zu jeder einzelnen Hirnzelle auch Medikamente transportieren kann. Aber in der Praxis ist das empfindliche Organ so hermetisch vor Eindringlingen geschützt, daß Hirnerkrankungen schwer therapierbar sind: 98 Prozent der in Tierversuchen vielversprechenden Wirkstoffe können beim Menschen nicht eingesetzt werden, weil sie die Barriere zwischen Blut und Gehirn nicht überwinden, schätzt William Partridge von der University of California, Los Angeles, einer der wenigen Ärzte, die die "Blut-Hirn-Schranke" erforschen (Science, 297, S. 1116).

Daß es sie gibt, weiß man seit dem 19. Jahrhundert, aber woraus sie besteht, zeigte sich erst in den sechziger Jahren unter dem Elektronenmikroskop: Jene Zellen, die Blutgefäße innen auskleiden - Endothelzellen -, sind in den Gefäßen des Gehirns extrem dicht gepackt und miteinander verflochten. Was durch diesen Filter hindurch will, muß entweder winzig klein sein oder die Hilfe von Transportproteinen in Anspruch nehmen, mit denen normalerweise Nährstoffe aus dem Blut in das Gehirn geschleust werden.

Die Pharmaindustrie setzt traditionell auf den ersten Weg, sie sucht "kleine Moleküle" und hat auch einige gefunden, die etwa gegen Epilepsie, Schizophrenie und Depression wirken. Viele andere Leiden jedoch lassen sich von kleinen Molekülen nicht beeindrucken: Alzheimer, Hirnschlag, Hirntumore. Aber schon die Medikamentenentwicklung ist teuer, und die Industrie scheut die Zusatzkosten für das Entwickeln von Methoden zum Einschleusen großer Moleküle so sehr, daß sie sich potentielle Profite entgehen läßt: Der Markt für Medikamente gegen Hirnkrankheiten ist mit 33 Milliarden Dollar (1998) nur halb so groß wie der für Herzkrankheiten, obwohl an letzteren nur halb so viele Menschen leiden.

Die universitäre Grundlagenforschung, die das Knausern der Industrie zunehmend kritisiert, ging vor 20 Jahren erste Schritte in die andere Richtung und entwickelte eine "blood-brain-barrier-disruption", die die Schranke temporär aufbricht: Hohe Zuckerkonzentrationen, die in Blutbahnen im Genick gespritzt werden, entziehen den Endothelzellen der Hirnblutgefäße Wasser und lassen sie schrumpfen, für 20, 30 Minuten. So lange können Medikamente in das Gehirn eindringen, so lange ist es aber auch ohne Schutz - vor Viren oder Toxinen, die im Blut zirkulieren -, weshalb das National Cancer Institute der USA bisher vor größeren Menschenversuchen zurückgeschreckt ist.

Transportproteine als Fähre

Die Risiken des Einreißens der Barriere sind auch der Mehrheit der kleinen Community - weltweit forschen nur etwa 150 Ärzte in diesem Bereich - zu hoch, viele wollen lieber den natürlichen Fährverkehr durch die Endothelzellen nutzen und Medikamente mit Hilfe der Transportproteine ins Gehirn bringen. Einer der Kandidaten ist Transferrin, das Eisen durch die Barriere schleust. Partridge will es in einem Hybridystem nutzen: Er hat Antikörper entwickelt, die so tun, als wären sie Eisen - sie binden an den Transferrinrezeptor -, und als Gepäck Neurotrophine mit sich führen, Moleküle, die Hirnzellen schützen und zum Wachsen anregen. Im Tierversuch wurden damit die Folgen von Hirnschlag um 70 Prozent gemildert.

Aber die Kapazität der Transportproteine ist beschränkt, sie eignen sich nur für Stoffe wie die Neurotrophine, die schon in geringer Konzentration wirken. Müssen größere Mengen durch die Barriere, könnten synthetische Fähren helfen: "Wir sind eher durch Zufall auf ein besonderes Trojanisches Pferd gestoßen", berichtet Jörg Kreuter von der Universität Frankfurt: "Nanopartikel aus Cyanoakrylat, einem biologisch abbaubaren Polymer, das heute als Zellkleber verwendet wird." Diese Partikel mitsamt ihrem Medikamentengepäck werden über jene Rezeptoren in das Gehirn gebracht, über die normalerweise Fett seinen Weg nimmt. "Wir haben im Rattenversuch bei Gehirntumoren ganz gute Erfolge", berichtet Kreuter: 40 Prozent der Tiere wurden geheilt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.