Die Gegenwart, Jahrhunderte entfernt

Wales. Kitschfrei und doch zauberhaft: Zeitreisen im Land des roten Drachen.

Kühe grasen im satten Grün, Pferde dösen, dazwischen wandern Schafe. Viele Schafe. „Jeder der drei Millionen Waliser besitzt, statistisch gesehen, vier Schafe“, grinst Dave und steuert den Bus durch das sanfte Hügelland im Südwesten von Wales. „Aber zu sehen gibt's auch noch Unmengen Schlösser und Burgen – wenn nicht sogar die meisten auf der Welt“, lächelt Dave um eine Spur breiter.

Guide Dave ist Waliser, geboren in Cardiff, der Hauptstadt des englischen Nachbarlandes. Seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt die walisische Kultur eine Renaissance, davor hatte England versucht, die walisische in der englischen Kultur aufgehen zu lassen. Die Sprache wurde verboten, der rote Drache als Landessymbol in eine finstere Höhle verbannt. Heute ist Walisisch Pflichtfach, es gibt sogar Schulen, deren erste Sprache die einst verbotene ist.

An der südlichen Küste von Gower bis Pembrokeshire werden Besucher auf Zeitreise geschickt. Es gibt kaum Autobahnen, zu manchen Aussichtspunkten und Stränden führen nur die eigenen Beine. Weil es keine Straßen gibt, die Gässchen für Autos zu schmal sind oder Autos schlicht verboten sind.

Großstadtgeplagte Gemüter tauchen ein in eine Welt, die zum „Ruhegenuss“ auffordert: auch zum aktiven, zum Beispiel Golfspielen. Wales ist wie geschaffen für diesen Sport: Weiche Hügel und weite Wiesen ziehen regelmäßig auch Promis wie Catherine Zeta-Jones und Ehemann Michael Douglas in die alte Heimat.

„Wales kann halt zaubern“

Die stille Schönheit des Landes beeindruckt auch, ja vor allem, Golfignoranten. Am Aussichtspunkt auf die Three Cliffs Bay in Gower richtet sich der Blick geradewegs in die Vergangenheit: Auf dem Rücken eines Hügels thront eine Burgruine. Um die Mauern ranken sich Legenden – Elfen zerstörten die Burg, weil ein Versprechen gebrochen, ein Verbrechen begangen und eine Liebe zerstört wurde. Und schleicht man in einer Vollmondnacht zur Ruine, trägt der Wind die Schreie der unruhigen Seelen bis heute durch die Luft. Durch die Überreste des Burgtores streift der Blick in die Tiefe, auf einen langen Sandstrand zwischen den Hügeln.

Hinter dem Strand und den Hügeln mäandert ein Fluss dunkelblau durch ein schmales Tal. Ein Kreis aus Steinen, vor mehr als 2000 Jahren von Kelten platziert, soll Energie geben, wie Dave versichert und schon losläuft, dem Weg in die Spirale hinein folgend. Wir folgen, wenn auch strinrunzelnd. Und doch, irgendwie, irgendwas springt über. „Wales kann halt zaubern“, scherzt jemand.

Je weiter der Besucher nach Westen reist, desto mehr Zeitlöcher schlucken ihn, laden Orte wie Tenby ein, in eine andere Zeit zu wechseln. In der Hafenbucht von Tenby liegt ein bemoostes Ruderboot. Gehört es dem Priester der kleinen Steinkapelle direkt am Strand? Kinder springen kopfüber von den Hafenmauern ins Wasser. Pastellfarbene Häuser ziehen einen Halbkreis um die Bucht, leuchten in der Abendsonne – walisisch-italienisches Flair. Der kleine Ortskern: ein Living-Musuem, aneinandergereiht Bäckereien, Pubs und Restaurants, eines aus dem 12. Jahrhundert. Die Gegenwart scheint Welten entfernt.

Die „Alles-für-1-Pfund“-Shops, Souvenirläden und das Spielcasino „Serendipity“ vis-à-vis der Kirche blendet das schönheitssüchtige Auge einfach aus. Es ist ganz einfach – die Waliser verstehen es perfekt, alt und modern kitschfrei zu mischen.

Die Umgebung Tenbys prägen Steilklippen, dazwischen liegen Strände und Buchten. Ideale Bedingungen für alle, die surfen wollen, oder für aktivitätshungrige Adrenalinjunkies: Coasteering heißt das Zauberwort. Eine leicht verrückte Sportart, die, so heißt es, hier erfunden wurde. Coasteering hat Suchtpotenzial – jeder, der sich nach anfänglichen Bedenken dann doch getraut hat, sich in einen engen Neoprenanzug zu quetschen, einen Helm aufzusetzen, die Klippen der Steilküste entlangzuklettern und sich à-la- Lemming von den Felsen in die Brandung hinunterzustürzen, sagt: „Noch einmal!“

Immer wieder überrascht Wales, warten unverhoffte, kleine Schönheiten auf den Reisenden. So wie die Küste des geschützten Gebietes im westlichen Pembrokeshire. „Ohne besonders walisisch sein zu wollen – diese Küste ist eine der schönsten, die ich jemals gesehen habe. Und ich bin viel gereist. Der Charme der Amalfitana kann da vielleicht noch mithalten“, schwärmt Dave. Wir starren aufs Meer. Der Zauber wirkt.

Inline Flex[Faktbox] CYMRU/CUMBRIA("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2007)

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