Salzburger Festspiele: Ein richtig fettes Schwein

Spielwiese für männliche Perversion: Patrycia Ziolkowska als 'Celimene' (aus Molieres 'Der Menschenfeind').
Spielwiese für männliche Perversion: Patrycia Ziolkowska als 'Celimene' (aus Molieres 'Der Menschenfeind').(c) APA (Hans Klaus Techt)
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Molière in XXX-Large: Luk Perceval treibt dem Franzosen das Komische aus.

Nach fast zwei Stunden, kurz vor der ersten Pause, er spielt wahrscheinlich gerade den „Don Juan“, zieht sich der Schauspieler Thomas Thieme an der Rampe sitzend die Unterhose runter und beginnt zu masturbieren. Es schwabbelt der Bauch des unförmigen Mannes, er schwitzt und stöhnt und gibt dann unbefriedigt auf. Im Publikum sagt leise eine elegante Salzburgerin zu ihrer minderjährigen Tochter: „Das ist alles nicht echt, nur gespielt!“ Die erwidert: „Aber recht vulgär reden sie schon.“

Ist Percevals „Molière. Eine Passion“ bei den Salzburger Festspielen kindgerecht? Auf jeden Fall. Wer erlebt hat, welche Heiterkeit die Kampfworte „Kaka“, „Lulu“ und „Wipfi“ in führenden Kindergärten hervorrufen können, wer die Wirkung eines Furzkissens auf Fünfjährige kennt, weiß die Leistung des flämischen Berserkers zu schätzen. Es wird ohrenbetäubend gefurzt, unflätig geflucht, doch die Vorschule auf der Perner-Insel bleibt mäuschenstill. Immerhin versprach Perceval, das Tragische an Molière zu zeigen.

Er treibt ihm das Komische wirklich aus: vier Weihestunden (exklusive Pause) für jene, die in der Postmoderne verklemmt geblieben sind. Präzis fasst Besucherin Christa Ludwig nach der Aufführung am Montag in Hallein die Grundstimmung zusammen. Die Truppe habe wohl Probleme mit dem Sex, sagte die Kammersängerin einer ORF-Reporterin. Da hat sie recht. Es wird getitschgert, genulpert und gerattert, gerührt, gestoßen und gerüttelt, gedrängt, erkannt und beigewohnt, natürlich im zeitgemäßen Gossenjargon, denn die Sprachsoße wird von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel gemixt. Deren Text ist zuweilen extraordinär, Poesie gibt's nur in homöopathischen Döschen.

Dennoch aber hat dieser neudeutsche „Molière“, von Perceval gekürzt und in Form gebracht, eine schöne Musikalität, die Inszenierung ist trotz beträchtlicher Länge intensiv. Gezeigt wird die Entwicklung eines Mannes in vier Stationen. Thieme spielt die Protagonisten Alceste („Der Menschenfeind“), Don Juan, Tartuffe und Harpagon („Der Geizige“). „Liebe ist...“ lautet sein Mantra, von der Jugend bis zum unziemlichen Abgang voller Apoplexie und in Windelhosen. Thieme flüstert, fleht, brüllt, entäußert sich in dieser Suche nach Liebe total.

Das Tier an sich, der Kläffer, der Mensch

Am Anfang aber ist man der schwarzen Bühne ausgesetzt, statt eines Vorhanges gibt es einen Scheinwerfer, der das Publikum anstrahlt. Dann wird es finster, auf der Bühne schneit's. Katrin Brack hat mit simplen Mitteln ein Wunderwerk an Atmosphäre geschaffen, die Dekoration besteht aus schwarzen Lautsprechern, auf denen die Schauspieler drapiert sind, Ballerinas, Herren im Anzug. Eine Frau (die wunderbar verbraucht wirkende Karin Neuhäuser) zieht einen Stoffhund im Wägelchen. Das Tier an sich, der Kläffer, der Mensch. Thieme lehnt an einem Barhocker, klopft sich mit dem Mikrofon an die Stirn, klopfklopf, klopfklopf, das evoziert den Herzschlag. „Liebe ist...“

Der neue Molière legt los. Was hat er uns zu sagen? „Von dieser Liebe wirst du satt“, oder „Das Herz ist nur ein Muskelklump“. Der Menschenfeind speit Worte der Verachtung über Schleimer und Angepasste aus, er steigert sich in grenzenlose Wut. Er signalisiert: Achtung, hier spielt Thieme, der Kraftlackel, der schon in Percevals Zwölf-Stunden-Spektakel „Schlachten“ und in Othello schockiert hat, einst Schauspieler des Jahres, also seht gefälligst mit der nötigen Andacht zu! Und glotzt nicht so dämlich, ihr Spießer! Ich bin ein richtig fettes Schwein.

Die nötige Andacht bringen die übrigen neun Schauspieler mit, sie lassen Thieme brillieren, obwohl sie auch selbst erstklassige Darsteller sind. Vor allem die Frauen überzeugen. Neuhäuser führt nicht nur den Stoffhund zum Äußerln, sondern äußerlt auch routiniert die weiblichen Altersrollen bei Molière. Sie singt nach der ersten Pause immer wieder das traurige Nuttenlied „Ein Schiff wird kommen“, dass es einem ganz kalt ums Herz wird, sie ist die Ratio für Molière, der in Geiz und Demenz endet. (Es schneit noch immer, Schneetreiben setzt ein.) Sie hat sogar Verständnis für seine pädophilen Neigungen.

Für diese Perversion und für die exhibitionistischen Szenen muss Patrycia Ziolkowska als junges Ding herhalten. Sie lässt sich von Anfang an beschnüffeln und reckt dabei den Männern ihren Unterleib entgegen. Sie steht immer unter Betrugsverdacht und muss ihrem schönen Körper gewagte Stürze, Posen und irre Lacher zumuten. Sie muss Thieme mit stillem Mineralwasser in den Mund pinkeln. Geradezu sensibel ist dagegen Christina Geiße, meist das Töchterl, das dann aber umso effektiver Bösartiges von sich gibt.

Im Vergleich zu den Frauen, den eigentlichen Gegenspielern Molières, sind die Herren harmlose Buben oder grantelnde Alte. Thomas Bading ist im Tartuffe nicht nur der gehörnte Ehemann, er muss sich auch noch von Thieme mittels einer Kerze sodomisieren lassen. Auch das ist nicht lustig. Horst Hiemer spielt die ungeliebten Vaterrollen, Stefan Stern unauffällige blöde Söhne. Erfrischend mit seinem abgründigen Wiener Dialekt ist Felix Römer, meist als ein Freund des Titelhelden. Er kommt in dieser Aufführung der Komödie am nächsten. Kay Bartholomäus Schulze hingegen und Ulrich Hoppe sind exzellente Hofschranzen, manchmal liebenswürdig tuntig, manchmal bloß Erfüllungsgehilfen des Thiemeschen Zornes.

Molière gesucht – und nicht gefunden

Allesamt aber haben sich bis zum Äußersten hergegeben für diese Tour de force, Hut ab vor so viel Willen zur Entblößung! Haben Perceval und sein Team Molière gefunden? Das ist nicht anzunehmen. Die Stücke von Molière finde er grundsätzlich zu sehr mit der Absicht geschrieben, dem Brotherrn zu gefallen, lässt uns der Regisseur im Programmheft der Salzburger Festspiele wissen, in deren Diensten er sich gerade befindet und deren gefällige Mode er erfüllt.

Molière ein Angepasster? Welch ein Irrtum! Nein, mein Herr! Das Beste an Molières Komödien ist das Subversive. Der brauchte keinen gewaltigen Thieme, um zu schockieren. Was aber ist nun wirklich die Liebe, die so lang vergeblich gesucht wurde? „Eine Gottheit, die alles, was sie uns tun heißt, entschuldigt“, sagt Valère in „der Geizige“. Solche Töne werden in Hallein brutal ignoriert.

VIER MOLIÈRES IN EINEM

„Der Menschenfeind“, „Don Juan“, „Tartuffe“, „Der Geizige“: Der flämische Regisseur Luc Perceval verbindet diese Komödien zu einer Entwicklungsgeschichte.

Perceval ist seit 2006 Hausregisseur an der Schaubühne Berlin. Die Zusammenarbeit mit seinem Lieblingsschauspieler, dem Deutschen Thomas Thieme, reicht lang zurück – etwa zum Shakespeare-Marathon „Schlachten“, der 1999 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2007)

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