Automobil-Geschichte: Am Anfang war der Elch

(c) ORF. Die Abenteuer von Rocky & Bullwinkle
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Elchtest. Ein Hoppala bei einem Ausweichtest vor zehn Jahren läutete die massenweise Verbreitung des Elektronischen Stabilitätsprogramms (ESP) ein. Künftige Systeme können noch mehr, als uns bloß sicher in der Spur zu halten.


Am 21. Oktober 1997: ein schwedischer Motorjournalist blickt besorgt aus dem Seitenfenster einer Mercedes-A-Klasse – er sieht den Himmel, was definitiv nicht sein sollte. Bei einem genormten Ausweichmanöver, einem Routineverfahren namens „Elchtest“ der Autozeitung „Teknikens Värld“, ist der kleine Mercedes mit knapp 65 km/h zwischen den Haberkornhütchen umgekippt. Dieser Lapsus reichte, um die komplette Mercedes-Chefetage monatelang in Atem zu halten.

Auf einmal waren die Kunden in aller Welt hellhörig geworden. Die Schuld für auf der Heckklappe hockende Smarts oder von der ­Autobahn abfliegende Audi TT wurde flugs den Autoherstellern in die Schuhe geschoben. Damit rückten drei neue Buchstaben in den Wortschatz von ­Autoverkäufern: ESP, das 1995 erstmals vorgestellte Elektronische Stabilitätsprogramm (also nicht „Elch-Schutz-Programm“), ­eine ­Erfindung von Bosch und Mer­cedes-Benz.

Wie funktioniert es? Das inzwischen über 25 Jahre alte Anti­blockiersystem ABS erhält die Lenkbarkeit und Stabilität des Fahrzeugs bei einer Vollbremsung. Die Antriebsschlupfregelung ASR erleichtert seit 1987 das Anfahren und Fahren auf rutschiger Fahrbahn. Beim ESP kommen neben den für ABS und ASR verwendeten Sensoren noch weitere Messfühler zum Einsatz: Ein Lenkradwinkel- und ein Bremsdrucksensor erfassen den Richtungs- und Bremswunsch des Fahrers. Die Signale eines Drehraten- und eines Querbeschleunigungssensors liefern die tatsächliche Fahrzeugbewegung.

Ein kompliziertes Rechenmodell vergleicht während der Fahrt laufend die Wünsche des Lenkers mit den wirklichen Fahrzeugbewegungen und erkennt kritische Fahrzustände schon im Ansatz. Droht der Wagen von der gewünschten Spur abzuweichen, greift die Elektronik blitzschnell ein und bremst selbsttätig eines oder mehrere Räder – so, als ob man mit vier Füßen vier Brems­pedale bedienen könnte. Die Elektronik kann genau das. Sie bremst besser, schneller und exakter als der Mensch. Einseitiges Verzögern leitet eine Drehbewegung des Wagens ein – eigentlich einfach, denn so lenkt man auch beim Rodeln.

Die Grenzen der Technik

Droht wegen zu hoher Geschwindigkeit trotzdem die Reifenhaftung verloren zu gehen, nimmt die Elektronik automatisch Gas weg. Durch diese Maßnahmen stabilisiert das System – innerhalb der physikalischen Grenzen – die Fahrzeugbewegung und hält das Fahrzeug auf Kurs. Ebenso Stand der Technik ist das Erkennen eines pendelnden Anhängers – das Auto bremst dann ohne Zutun des Lenkers, bis der Anhänger wieder brav in der Spur nachzuckelt.

Lenkt ein völlig überforderter Fahrer beim Schleudern jedoch heftig und unkontrolliert hin und her, verliert selbst die beste Regelelektronik die Orientierung. Die Grenzen der Reibung kann sie auch nicht überwinden. Wer im Vertrauen auf die Technik risikofreudiger fährt, wird daher trotz ESP aus der Kurve fliegen – allerdings mit höherer Geschwindigkeit und entsprechend schwereren Folgen. Zahlreiche Autounfälle mit schweren oder tödlichen Verletzungen sind auf Schleudervorgänge zurückzuführen, an denen im Anfangsstadium kein weiteres Fahrzeug beteiligt war. Im Gegensatz zu den Knautschzonen im Front- und Heckbereich sind die Möglichkeiten des Seitenschutzes geringer, ein seitlicher Aufprall daher deutlich gefährlicher.

Die Automobilhersteller haben die Bedeutung von ESP erkannt und entwickelten eigene Lösungen –
oder kauften fertige ein. Daher ist die Stabilitätsregelung unter verschiedensten Bezeichnungen erhältlich. Die Abstimmung und Art der Regelung – ob hart oder weich im Einsatz, sportlich oder für Fahrer mit Hut, denen man nicht die geringste Eigenbewegung des Fahrzeugs zumuten will, bestimmt immer der Fahrzeughersteller. Der entscheidet auch nach Marken- und Produktphilosophie, ob das elektronische Fangnetz ganz oder nur teilweise vom Fahrer weggeknipst werden darf – beispielsweise beim Fahren im Sand, Tiefschnee oder mit Schneeketten.
Unter dem Druck der Kosten bei der Entwicklung von neuen Modellen werden die Werke jedoch verführt, auf die exakte Abstimmung der Fahrwerkkomponenten vor allem bei günstigeren Autos weniger Zeit und Energie als bisher zu verwenden: Die Elektronik wird es hernach schon richten.

1999 startete die „Hill Descent Control“, die bei steiler Bergabfahrt automatisch eine gleichbleibende Geschwindigkeit hält. Eine ähnliche ESP-Weiterentwicklung ist „Hill Hold Control“, sie verhindert das ungewollte Rückwärtsrollen auf dem Berg. „Brake Disc Wiping“ legt die Bremsbeläge bei nasser Fahrbahn regelmäßig leicht an die Scheiben an, um dort den störenden Nässefilm zu verdrängen. Die „Load Adaptive Control“ erkennt das tatsächliche Gewicht sowie die Schwerpunktlage des Fahrzeugs und passt die ESP-Eingriffe an den Beladungszustand an – das ist vor allem bei Kleintransportern hilfreich. Der Fahrer bekommt von all dem im Normalfall nichts mit.
Der nächste Technologiesprung war die Verknüpfung mit dem Lenkgetriebe: Der Mensch bleibt schuldig

Durch aktive Lenkkorrekturen kann die Fahrdynamikregelung die stabilisierende Wirkung der Bremse weiter verbessern (erstmals im Toyota Prius, Anfang 2004). „Elec­tronic Brake Prefill“ reagiert, wenn der Fahrer ruckartig das Gas loslässt: Es legt daraufhin die Bremsbeläge sofort an die Scheiben an, um bei einer möglicherweise folgenden Notbremsung den Anhaltweg zu verkürzen.

Babylon ist überall

Verknüpft mit dem Abstandsregeltempomat und einer Video­sensorik bereitet die Elektronik im Notfall Bremsdruck vor und warnt den Fahrer vor kritischen Verkehrssituationen durch einen kurzen Bremsruck. Die nächste Ausbaustufe erkennt eine unvermeidbare Kollision und löst, wenn der Unfall nicht mehr verhindert werden kann, eine automatische Bremsung aus. Damit reduziert das Auto aber nur die Schwere eines Unfalls, wenn der Fahrer nicht oder nur unzureichend auf die vorausgegangenen Warnungen reagiert hat, denn aus Haftungsgründen muss stets der Mensch als Schuldiger übrigbleiben können. Unter diesen Kürzeln werden Fahrstabilitätssysteme verkauft:
ASC (Automatic Stability Control): Bentley.
CST (controllo stabilità e trazione): Ferrari.
DSC (Dynamic Stability Con­trol): BMW, Jaguar, Mazda, Mini, Land Rover.
DSTC (Dynamic Stability and Traction Control): Volvo.
ESC (Elec­tronic Stability Control): markenübergreifende Systembezeichnung, z. B. bei EuroNCAP, um markenrechtlichen Ansprüchen aus dem Weg zu gehen.
ESP (Elektronisches Stabilitätsprogramm): Audi, Bentley, Citroën, Ford, Kia, Maybach, Mercedes, Nissan, Opel, ­Peugeot, Renault, Seat, Škoda, Smart, VW. ­
MASC (Mitsubishi Active Stability Control): Mitsubishi.
MSP (Maserati Stability Program) Maserati.
PSM (Porsche Stability Management): Porsche.
VDC (Vehicle Dynamic Control): Alfa Romeo, Fiat, Lancia.
VSA (Vehicle Stability Assist): Honda.
VSC (Vehicle Stability Control): Daihatsu, Lexus, ­Toyota.
VDIM (Vehicle Dynamics Integrated Management): Lexus.

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