Glaziologie: Schwimmt Grönlands Eis davon?

Forscher entwarnen: Das Schmelzwasser wirkt nicht als Schmiermittel, das Gletscher ins Rutschen bringt.

Der Eisberg, der der „Titanic“ zum Verhängnis wurde, kam vermutlich vom größten Gletscher an der Westküste Grönlands, Jakobshavn Isbræ, er kalbt ins Meer, ist ein „Outlet“-Gletscher. Just er hat seine Wandergeschwindigkeit in zehn Jahren mehr als verdoppelt, von 5,7 Kilometern pro Jahr auf 12,6. Das hat Symbolkraft für den Untergang der ganzen Erde an der technischen Hybris der Menschen: Das Wasser, das im Eis Grönlands gespeichert ist, würde die Weltmeere um sieben Meter heben.

Aber ganz so rasch geht es nun auch wieder nicht. Zwar verliert Grönland Eis, aber wie viel, ist umstritten, eine Schätzung geht auf 211 Milliarden Tonnen in jedem der letzten vier Jahre, eine zweite auf 154. Beide stützen sich auf die gleichen Daten, werten sie aber nach anderen Verfahren aus: Der Eisverlust wird indirekt gemessen, mit zwei Satelliten des Gravity Recovery and Climate Experiment (GRACE). Die umrunden die Erde kurz hintereinander und messen exakt den Abstand zueinander. Befindet sich der vordere über einer Region mit höherer Masse – etwa mit dickerem Eis –, wird er von ihr angezogen, der Abstand zum hinteren ändert sich, daraus wird gerechnet, wie viel Eis wo unten auf dem Land liegt.

Das ist schwer genug, es wird dadurch verkompliziert, dass Grönland der letzte Rest der letzten Eiszeit ist: Das Eis bedeckte damals große Teile der Nordhalbkugel und drückte die darunter liegende Erdkruste in den dichteren Erdmantel hinein. Seit das Eis wich – die Eiszeit war vor 11.000 Jahren zu Ende –, drückt der Mantel die Kruste wieder hinauf, deshalb hebt sich etwa Skandinavien pro Jahr um neun Millimeter, das macht Höhen- und Dickenmessungen schwierig.

Trotzdem ist die Gesamtbilanz eher beruhigend, Grönland hat viel Eis: Den jährlich schmelzenden 154 bis 211 Milliarden Tonnen steht ein Fundus von 2,9 Millionen Kubikkilometern gegenüber, das ist in der Größenordnung das Zehntausendfache. Allerdings könnten auch größere Massen in Bewegung – und ins Meer – kommen, wenn das Schmelzwasser von der Oberfläche der Eisflächen in die Tiefe dringt und dort wie ein Schmiermittel wirkt, auf dem alles ins Rutschen gerät. Das ist die zweite Sorge – und eine hypothetische Erklärung für die Beschleunigung nicht nur des Jakbshavn Isbræ, sondern auch anderer „Outlet“-Gletscher – auch hier sind die Größenordnungen beeindruckend: Im Sommer bilden sich tausende Schmelzwasserseen, einer hatte auf einer Fläche von 5,6 Quadratkilometern einen Inhalt von 0,044 Kubikkilometer, eine Gruppe um Sarah Das (Woods Hole) beobachtete ihn im Juli 2006. Sie konnte nicht lange beobachten, der See verschwand in weniger als zwei Stunden. Das Wasser bahnte sich einen Weg durch das Eis bis zum darunter liegenden Gestein, 980 Meter.

Wasserfall, mitten durchs Eis

Dieser Wasserfall war in seinem kurzen Leben mächtiger als der des Niagara, berechnen die Forscher. Aber sie geben doch partielle Entwarnung: Die „Outlet-Gletscher“ werden dadurch nicht beschleunigt, es muss etwas anderes sein (Science, 17.4.).

Aber was? Es gibt viele Forschungsprojekte, aber kein systematisches Monitoring des ganzen grönländischen Eispanzers, bedauert Nature (452, S.798). Immerhin beruhigt die Vergangenheit: Alle Bohrkerne, die man bisher gezogen hat, deuten darauf, dass in der letzten Zwischeneiszeit – vor 120.000 Jahren, es war fünf Grad wärmer als heute – das Eis nicht (weit) gewichen ist. Das passt dazu, dass die Ozeane damals nur einen, zwei Meter gestiegen sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2008)

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