Die Suche nach dem perfekten Papiersackerl

Auch aus Papier. Das Paket
Auch aus Papier. Das Paket(c) Erwin Wodicka - BilderBox.com
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Bisher war nur wenig über die Faserbindungen von Papier bekannt. Wissenschaftler der TU Grazhaben sieben Jahre lang untersucht, was den Werkstoff zusammenhält.

Jedes Jahr landen in Europa mehr als acht Milliarden Plastiksackerln auf dem Müll. Zu viel, urteilt die Europäische Kommission und hat dem Plastiksackerl kürzlich den Kampf angesagt: Die Bürger der Europäischen Union sollen bis 2019 insgesamt 80 Prozent weniger der besonders häufig genutzten leichten Tragetaschen aus Kunststoff verwenden.

Papiersackerln als umweltfreundliche Alternative stehen damit hoch im Kurs. Die Antwort der Forschung auf die aktuelle Diskussion ist längst in Vorbereitung: Sieben Jahre lang untersuchten Forscher des Instituts für Festkörperphysik der TU Graz im Christian-Doppler-Labor (CD-Labor) für oberflächenphysikalische und chemische Grundlagen der Papierfestigkeit den vielseitig einsetzbaren Werkstoff. Ihre Ziele: einerseits durch besseres Grundlagenwissen über Struktur und Eigenschaften von Papier die Qualität verschiedener Sackprodukte zu verbessern und andererseits neue Anwendungsbereiche für Papier zu erschließen.

In ihrer Grundlagenarbeit beschritten sie in Kooperation mit Kollegen in Graz und Leoben Neuland. „Die Eigenschaften von Papier als Netzwerk aus pflanzlichen Fasern waren grundsätzlich bekannt. Bislang war aber wissenschaftlich nicht genau erklärt, was die Fasern zusammenhält“, sagt Laborleiter Robert Schennach. „Diese Mechanismen zu kennen ist entscheidend, wenn man die Qualität von Papier verbessern will.“

Vielseitiger Papiersack. Die Anforderungen an einen Papiersack sind jedenfalls hoch: Er soll Verpacktes schützen und je nach Verwendung wasserfest oder atmungsaktiv sein. Bedruckbar soll er sein und dicht, auf keinen Fall darf er reißen.

Als Beispiel führt Schennach Zementsäcke an, die in der Industrie in nur drei Sekunden in einem Gasstrom befüllt werden: 80 Prozent Gas und 20 Prozent Zement schießen in den Sack. Dieser muss dabei den Zement halten und zugleich das Gas durchlassen. „Beim Zementsack braucht man also konträre Materialeigenschaften wie große Porosität und zugleich hohe Festigkeit. Nur Papier kann das verbinden“, so Schennach. Wie man Papier fester macht, war ein wichtiger Fokus der Forscher. Und: „Versteht man die Faserbindungen besser, kann man dieselbe Menge Papier mit weniger Rohstoff herstellen. Das schont die Umwelt und spart Energie und Kosten.“

Der Weg zum perfekten Papiersack begann für die Wissenschaftler mit der Suche nach den passenden Methoden für die Analyse: Drei Jahre lang entwickelten sie diese großteils in Eigenregie. Schennach, selbst Chemiker, und seine Forschergruppe am Institut für Festkörperphysik nutzten Infrarotspektroskopie, um die Oberflächenchemie zu bestimmen: Dabei beleuchteten die Forscher die Probe mit Infrarotlicht. „Das regt Schwingungen im Material an, das Licht absorbiert. Die fehlenden Wellenlängen erlauben Rückschlüsse auf die Materialeigenschaften.“ Unter einem Polarisationsmikroskop bestimmten sie weiters die Größe der gebundenen Flächen zwischen zwei Fasern – die Forscher sprechen von einer Faser-Faser-Bindung. Vereinfacht gesagt, bleibt es unter dem Mikroskop dunkel, wo die Bindung ist: Je größer diese Fläche ist, desto fester hält das Papier zusammen.

Papierscheiben in Kunstharz. Eine selbst entwickelte Methode setzten auch Forscher des ebenfalls am CD-Labor beteiligten TU-Instituts für Papier-, Zellstoff- und Fasertechnik ein: Sie gossen einzelne Papierfasern in Kunstharz. In hauchdünne Scheiben geschnitten, fotografierten sie das Material unter dem Mikroskop. Aus den digitalen Bildern dieser Serienschnitte berechneten sie am Computer die dreidimensionale Struktur der Faserverbindung. Damit bildeten sie schließlich die Morphologie, also die räumliche Gestalt der Faser, des Fasergeflechts und der Bindungsflächen ab.

Zudem untersuchten die Wissenschaftler die auftretende Scherbelastung unter dem Mikroskop: Dazu klebten sie eine Faser an beiden Enden fest, eine quergebundene Faser nur an einer Seite – ein forderndes Verfahren, zumal eine Papierfaser einen Durchmesser von lediglich etwa 40 Mikrometern, also wenigen Tausendstel Millimetern, hat. Die Bewegungen der mechanisch eingespannten Fasern verfolgten sie anschließend unter dem Mikroskop.

Um mehr über die Festigkeit von Faser-Faser-Bindungen zu erfahren, war auch eine Gruppe von Physikern der Montanuniversität Leoben Teil des CD-Labors: Mit einem Rasterkraftmikroskop tasteten sie die Oberflächen im Nanometerbereich mechanisch ab. Hier interessierte vor allem die Zugbelastung: Die Forscher maßen die Kräfte, bis die Bindung zerriss, und untersuchten dann die ursprünglich gebundene Fläche.

Kapillarbrücken stärken Bindung. Insgesamt identifizierten die Wissenschaftler in ihrer Arbeit sechs Wechselwirkungen, die bei Faser-Faser-Bindungen auftreten. Fünf davon waren bekannt, aber zuvor nicht im Detail erklärt worden. Eine weitere entdeckten sie neu. „Wir haben erstmals Kapillarbrücken bei Papier nachgewiesen, die sich durch die Oberflächenspannung bilden“, so Schennach. Den Effekt kennt man aus dem Alltag: Stellt man ein feuchtes Glas auf einen Papieruntersetzer, bleibt es kleben. „Hier wirken Kapillarbrücken – ein Konzept, das in der Reibungslehre an sich schon lange bekannt ist.“ Selbst in trockenem Papier ist so viel Feuchtigkeit, nämlich 30 bis 50 Prozent, dass noch immer Kapillarbrücken bestehen.

Die weiteren Wechselwirkungen: Die Forscher zeigten, dass sich Fibrillen, das sind feine Fasern an den Fasern, wie ein Klettverschluss mechanisch verhaken; zusammen mit der elektrostatischen Wechselwirkung zwischen geladenen Teilchen – gegensätzliche Ladungen ziehen sich an und stärken so die Bindung – ein besonders wichtiger Effekt. Ebenfalls bedeutsam: Die sogenannten Van-der-Waals-Wechselwirkungen: Sie treten zwischen Atomen auf und bewirken Anziehung. Kreide hält so etwa an einer Schultafel. „Diese Bindungen sind an sich schwach, aber die große Menge an Atomen verleiht dem Effekt dann doch die entsprechende Bedeutung“, so Schennach. Die weiteren Bindungen ließen sich mit verschiedenen chemischen Ansätzen erklären.

Relevanz für Praxis. Damit ist es erstmals gelungen, im Detail zu zeigen, welche Bindungen Papier zusammenhalten – ein Stück Pionierarbeit auf dem Weg zum perfekten Papiersack. Die Arbeiten werden in den nächsten Wochen abgeschlossen, sieben Jahre sind die maximale Laufzeit für ein CD-Labor. Von den Erkenntnissen profitiert die Verpackungsindustrie aber bereits: Aufbauend auf ihren Erkenntnissen, entwickelten die Wissenschaftler drei Konzepte, wie sich festeres Papier produzieren lässt. Die Industriepartner des Labors – Mondi Packaging, Lenzing und Kehlheim Fibres – nutzen diese für Spezialanwendungen. „Ein ideales Beispiel, wie die Praxis von der Grundlagenforschung profitieren kann“, so Schennach, der bereits über Folgeprojekte nachdenkt. Perspektiven schaffte das Thema Papier auch für insgesamt zwölf Diplomanden und neun Dissertanten: Sie verfassten ihre Abschlussarbeiten im CD-Labor.

In Kürze

Papier besteht aus einem Netzwerk von pflanzlichen Fasern. Das Einsatzspektrum des Werkstoffs ist breit und reicht von Banknoten über die Zeitung bis hin zum Papiersackerl.

Faserbindungenhalten Papier zusammen. Über die Wechselwirkungen zwischen den Papierfasern war bisher aber nur wenig bekannt.

Im CD-Labor für oberflächenphysikalische und chemische Grundlagen der Papierfestigkeit untersuchten Forscher der TU Graz und der Montanuni Leoben den Werkstoff Papier sieben Jahre lang. Das entspricht der maximalen Laufzeit eines CD-Labors. In diesen Einrichtungen für anwendungsorientierte Grundlagenforschung soll ein Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gelingen.

Industriepartnerwaren Mondi Packaging, Lenzing und Kehlheim Fibres. Sie nutzen die Erkenntnisse der Wissenschaftler für verschiedene Anwendungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2014)

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