Koren: "Ohne Nazis wäre ich Wiener!"

Weingartens Vater
Weingartens Vater(c) Archiv Heinz Weingarten
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Der eine ist in Tel Aviv geboren, der andere in Wien, doch beide suchen hier nach der Jugendgeschichte ihrer Eltern: Jacob Koren und Heinz Weingarten, Kinder jüdischer Emigranten.

Männer, die Krähen fangen – dieses Bild ist ihm geblieben: „Unsere Fenster gingen auf den Wienerwald hinaus. Und da sah ich ein paar Männer mit dicken Mänteln, die fingen die Krähen und hängten sie sich an den Gürtel. Dann haben sie die Mäntel zugemacht und sind weggegangen. Ich weiß nicht, was sie mit den Vögeln machen wollten – aber daran erinnere ich mich ...“

Heinz Weingarten kann seine Erinnerungen an Wien fast an den Fingern einer Hand abzählen. Tausende Kilometer trennen den langjährigen Australier normalerweise von dieser Stadt seiner frühen Kindheit. Schon 1939 fuhren die Eltern mit dem Sechsjährigen auf dem Schiff fort, die Donau hinunter, durch Ungarn, Rumänien, Bulgarien. An einem Wintertag 1940 erreichten sie Tel Aviv, Palästina.

Ein Hofkanzler als Vorfahr. Nun ist Heinz Weingarten auf Besuch nach Wien gekommen. Österreich, das ist für ihn nicht nur die Geschichte einer Vertreibung, sondern auch der Schauplatz einer langen Familiengeschichte. Stolz zeigt der 83-Jährige der „Presse am Sonntag“ ein Dokument von 1848, die „allerhöchste Entschließung“, in der Kaiser Ferdinand die „Preßfreiheit“ und „Aufhebung der Censur“ erklärt. Unter den Unterzeichnern findet sich der Name eines Vorfahren: Hofkanzler Joseph Freiherr von Weingarten.

„Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, in der Kavallerie, na wie hießen die – Deutschmeister!“, erzählt er. Die Juden im Ersten Weltkrieg – das ist im Weltkriegs-Gedenkjahr ein präsentes Thema in Wien, eine Ausstellung im Jüdischen Museum ist ihm gewidmet. Juden gehörten zu den loyalsten Untertanen von Kaiser Franz Joseph, der ihnen Schutz bot und den Antisemitismus ablehnte. Weingartens Vater wurde schwer verwundet: „In Rumänien hat man ihn vom Pferd geschossen, er hat einen halben Fuß verloren und war zwei Jahre lang in einem Spital in Siebenbürgen.“

Weingarten hat auch ein Foto seines Vaters, das ihn vor dem Ersten Weltkrieg im Ringer-Trikot eines Wiener Klubs zeigt. „Vor dem Krieg hätte man ihn fast zu den internationalen Meisterschaften nach Amerika geschickt.“ Mit der Verwundung war an eine Sportlerkarriere nicht mehr zu denken.

Auch Annoncen seines Vaters für Nähmaschinen aus alten Zeitungen hat Weingarten noch. Aber das Haus in der Praterstraße, in dem der Vater in den 1930er-Jahren sein Geschäft hatte, existiert nicht mehr. Auch die Volksschule in Hietzing, die Weingarten kurz besuchte, bevor die Familie floh, ist völlig verändert. „Gestern bin ich hingegangen. Ich erkenne nichts wieder.“

In der Schule nie aufs Klo. Auf einem alten Zeugnis, datiert von 29. März 1938, heißt Heinz nicht Weingarten, sondern Wägner. „Wägner war der Nachname meiner Mutter“, erklärt Weingarten. „Mein Vater dachte, es sei besser, wenn der Name nicht so jüdisch klingt. Er hat mir auch eingeschärft, nicht in der Schule aufs Klo zu gehen, damit ja niemand sieht, dass ich beschnitten bin.“

Dass Weingarten in diesem Frühjahr von Australien nach Wien gekommen ist, verdankt sich maßgeblich dem hiesigen Jewish Welcome Service. Seit er in den 1980er-Jahren gegründet wurde, hat er unzählige Emigranten und Holocaust-Überlebende nach Wien gebracht, um die Versöhnung zu fördern und zu zeigen, wie sehr sich Österreich verändert hat. Nun stirbt diese Generation zwar aus, dafür kommen immer öfter deren Kinder und Enkelkinder aus aller Welt. Milli Segal, die die Öffentlichkeitsarbeit für den Jewish Welcome Service leitet, findet diese Einladungen nach Österreich immer noch sehr wichtig. „In Amerika erlebe ich es nach wie vor, dass mich junge Menschen, Nachfahren von Emigranten, fragen, ob ich in Wien ungehindert auf der Straße gehen kann!“

Auch Jacob Koren ist der Einladung des Jewish Welcome Service gefolgt. Seine Eltern flohen wie jene Weingartens 1939 von Wien nach Tel Aviv, aber noch ohne ihn: Er ist in Tel Aviv geboren. „Wären die Nazis nicht gekommen, mein Vater hätte als Kantor in Wien gelebt, ich wäre hier geboren und hätte mein ganzes langes Leben in Wien verbracht!“, meint er. „Einerseits ist es schrecklich, was hier passiert ist. Andererseits liebe ich Wien!“

Das viele Deutsch in Tel Aviv. Warum er so vorzüglich Deutsch spreche? „Es ist meine Muttersprache!“ Seine Mutter habe in Tel Aviv nie richtig Hebräisch gelernt, erzählt Koren. „Sie hat immer Deutsch gesprochen, sie ging zu meinem Lehrer in die Sprechstunde und sprach Deutsch. Als Kind habe ich mich schrecklich dabei gefühlt, manche sagten zu ihr ,Schämen Sie sich nicht, Deutsch zu sprechen?‘ Aber es war ja ihre Muttersprache! Und in Tel Aviv kam sie damit durch, mit Deutsch und ein bisschen Englisch, ein bisschen Jiddisch. Dort waren so viele deutschsprachige Emigranten, überall gab es Geschäfte mit deutschen Aufschriften ...“

Jacob Koren ist studierter Historiker und ein wandelndes Lexikon über die jüdische Kantorentradition in Wien. Die hat er lange erforscht, denn sein Vater war als hochbegabter Wiener Kantor selbst ein Teil dieser Geschichte. „Er hat beim berühmtesten Wiener Kantor jener Zeit gelernt, bei Emanuel Fraenkel“, sagt Koren stolz. „Mit sechs Jahren hat er begonnen, und er wurde gleich zum Solisten ernannt. Dafür bekam er auch Geld, das hat der armen Familie geholfen.“ Später lernte Vater Koren das Juwelierhandwerk, „aber das hat ihn nicht interessiert“.

Die Wiener Oper habe sein Vater geliebt, erinnert sich der Sohn. „Einige von Fraenkels Schüler sind später berühmte Opernsänger geworden. Und manche Opernsänger haben die jungen Kantorenschüler bezahlt, damit sie in die Oper gehen und laut klatschen. Sie haben ihnen die besten Plätze ganz vorne gegeben. Die Oper in Israel war am Anfang ganz schlecht, und mein Vater hat gesagt, da gehst du nicht hin, besser hörst du Platten!“

Immer neue Dokumente aus Wiener Archiven und aus Familienbesitz kramt Jacob Koren im Gespräch aus seiner dicken Mappe hervor. Da ist etwa eine Urkunde aus dem Archiv der Kultusgemeinde, die Ernennung seines Vaters zum Oberkantor. Oder ein Gebetbuch, das sein Vater aus Wien mitgenommen hat – mit einem Gebet für den Kaiser darin. Koren: „Die Juden haben ihn geliebt, er hat sie doch gelassen nach Wien kommen!“ Auch ein Empfehlungsschreiben von einem Wiener Kantor hat er, das seinem Vater als Neuankömmling in Palästina helfen sollte: Dessen „wohltemperierter Tenor“ wird darin gerühmt, sein Gesang habe „eine Vollkommenheit“ erreicht, „die ihn zu den größten Hoffnungen berechtigt“.

„Und in diesem Brief haben Freunde aus Wien meinem Vater geantwortet, als er über das schwierige Leben in Palästina geklagt hat: Du Trottel, du hast ja keine Ahnung, was hier in Wien passiert!“ Das Wasser steht uns bis zum Hals, schreibt auch der wichtigste Oberkantor Wiens dem emigrierten Vater.

Dabei schien im Wien der 1930er-Jahre für seinen Vater zunächst „alles gut und schön“, betont Koren. „Er hatte eine herrliche Stimme, er war ein erstklassiger Solist, er war in der Synagoge Tempelgasse die Nummer drei oder vier, seine Karriere war gesichert!“

Wien habe damals die besten Bedingungen für Kantoren gehabt, erzählt Koren. „1907 oder 1908 suchte die Synagoge in der Tempelgasse einen neuen Kantor, man hat einen Wettbewerb ausgeschrieben und 120 Kantoren aus ganz Europa haben sich beworben, auch aus London, Paris. Ein amerikanischer Kantor ist damals nach Wien gekommen und hat seinen Wiener Kollegen gesagt: ,Ihr seid viel besser dran als bei uns, ihr habt sichere Jobs, ein gutes Gehalt, ihr habt die Kultusgemeinde!‘“

1936 heirateten Korens Eltern. „Meine Mutter wohnte ebenfalls in der Leopoldstadt, sie kam aus einer berühmten, sehr orthodoxen Familie, ihr Großvater war einer der wichtigsten Rabbis in Galizien. Aber sie war nicht so orthodox, sie liebte die Stadt, ging gern ins Kino ...“

Nach dem „Anschluss“ wurde es für das junge Paar immer schlimmer. „Mein Vater war groß, nicht so wie ich, aber er hatte meine Nase. Einmal hat man ihn auf der Straße zusammengeschlagen. Meine Mutter hat nicht ausgeschaut wie eine Jüdin. Als sie einmal in einem jüdischen Geschäft etwas kaufen wollte, haben sie ihr ein Schild umgehängt, ,Ich kauf bei einem Juden‘ oder so ähnlich. Sie hat den Leuten gesagt, aber ich bin ja eine Jüdin! Sie hatte aber keinen Ausweis dabei. Als man meinen Vater geholt hat, haben sie sie endlich in Ruhe gelassen.“

Mit Rucksack in Palästina. Nach der „Reichskristallnacht“ schrieb Korens Vater erfolglos nach England, wo die meisten Kantoren Zuflucht suchten, und auch an eine deutsch-österreichische Gemeinde in Uruguay. Letztendlich bekam er Papiere für die Fahrt nach Palästina. „Am 15. März sind meine Eltern angekommen, die Engländer haben ihnen was zu trinken gegeben und gleich mit einem Autobus nach Tel Aviv geschickt. Da gehen diese zwei jungen Menschen mit ihren Rucksäcken auf der Hauptstraße in Tel Aviv, und jemand kommt aus einem Zuckerl-Geschäft und fragt, haben Sie jemand hier, einen Verwandten? Ja, einen Onkel, ein gewisser Soundso, sagt mein Vater. Sagt der andere drauf: Der betet mit mir in der Synagoge! So hat es angefangen in Tel Aviv.“

Eine Wiener Synagogein Israel. Lauter Wiener, erzählt Koren, habe sein Vater in Tel Aviv wiedergetroffen. „Er hat sich mit dem ehemaligen Rabbiner vom zehnten Bezirk in Wien getroffen, der suchte einen Kantor. Und so haben sie eine Synagoge von lauter Wienern eröffnet.“ Koren erinnert sich noch gut an das Leben in der Synagoge, in der sein Vater 15 Jahre lang gearbeitet hat. „Da waren viele wichtige Männer aus Wien, zum Beispiel der Sekretär des Wiener Oberrabbiners oder Dr. Isidor Klaber, seinerzeit die Nummer drei in der Kultusgemeinde, ein großartiger Mensch! Die armen Jemeniten kamen zu ihm, er hat sie gratis behandelt, obwohl er selbst nicht viel hatte.“

Sein Vater sei nie nach Wien zurückgekehrt, sagt Koren. „In den 70er-Jahren war er jedes Jahr in den Ferien Kantor in der jüdischen Gemeinde in Stuttgart! Immer ist er da hingefahren, nach Wien: nie. Meine Mutter schon, sie ging Sisi schauen und kaufte Groschen-Romanzen, jedes Mal, wenn sie aus Wien zurückkam, sagte ich, Mama, hast du wieder diesen Blödsinn gekauft!“ Dabei hätten die Nazis ihre Eltern, ihre Großmutter, ihre Tante ermordet, sagt Koren. „Trotzdem: Meine Mutter hat Wien immer geliebt.“

Heinz weingarten

Mit sechs aus Wien geflohen.
Seine Eltern lebten in den 1930er-Jahren in Wien, kurz in Deutschland und wieder in Wien, bevor sie 1939 nach Palästina flüchteten. Heute lebt Heinz Weingarten im Bundesstaat North South Wales in Australien.

Berühmter Vorfahre.
Besonders stolz ist Weingarten
auf seinen Vorfahren Joseph Freiherr von Weingarten, ein Hofkanzler unter Kaiser Ferdinand I., der 1848 die Einführung der Pressefreiheit mit unterzeichnet hat. Archiv Heinz Weingarten

Jacob korenAuf den Spuren Wiener Kantoren.Jacob Koren wurde bald nach der Flucht seiner Eltern von Wien nach Palästina in Tel Aviv geboren. Er lebt auch heute noch in der Nähe von Tel Aviv, als Historiker ist er ein Spezialist für die Geschichte der jüdischen Kantorentradition, auch jener in Wien.

Begnadeter Sänger-Vater.
Korens Vater Asher (Otto) Korn startete eine vielversprechende Laufbahn als Wiener Kantor, bevor er mit seiner Ehefrau emigrieren musste.

Der Jewish Welcome Service.
Der Jewish Welcome Service Vienna (JWS) ist eine Non-Profit-Organisation mit Sitz in Wien, die 1980 gegründet wurde. Sie wurde bis 2007 von Leon Zelman geleitet. Ziel des Vereins ist es vor allem, während des Nationalsozialismus aus Wien Vertriebene und ihre Nachkommen mit dem Wien von heute vertraut zu machen und ihnen eine positive Einstellung zum Land zu ermöglichen. Dazu gehört u.a. ein Einladungsprogramm. Im Rahmen des Projekts „Welcome to Vienna“ wurden bisher mehreren tausend seinerzeit vertriebenen Österreichern und ihren Angehörigen Besuchsreisen nach Wien ermöglicht. Archiv Jacob Koren

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2014)

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