"Möglichst sofort drei bis fünf Türken für meine Möbelfabrik"

Ein bilaterales Anwerbeabkommen besiegelte vor genau 50 Jahren die Anstellung der sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei. Wirtschaftswachstum in Österreich verlangte Arbeitskräfte, die das Land selbst nicht bereitstellen konnte. Alle Beteiligten waren überzeugt, dass es sich um eine temporäre Maßnahme handelt. Ein Rückblick in die 1960er-Jahre.

Österreich beginnt in einem historischen Gebäude, das sich auf der Istanbuler Prachtmeile Istiklâl Caddesi befindet. Vor genau 50 Jahren, im Jahr 1964, bezieht ein österreichischer Beamter den zweiten Stock des Hauses und eröffnet damit offiziell die Anwerbekommission seines Landes. Jeder Türke, der Arbeit sucht und diese Arbeit in Österreich zu finden hofft, muss in die Istiklâl Caddesi, in das als Narmanli Han bekannte Gebäude, das zuvor die russische Botschaft beherbergte. Hier werden also Dokumente ausgefüllt, ärztliche Atteste entgegengenommen, Intelligenztests durchgeführt, und schließlich wird hier die Bewilligung erteilt, in das über 1500 Kilometer weit entfernte Wien reisen zu dürfen. Spätestens dort, auf dem Südbahnhof, beginnt Österreich für tausende Gastarbeiter dann wirklich.

Wien sucht zu diesem Zeitpunkt händeringend nach Arbeitskräften, in Dokumenten ist gar von einer „panikartigen Jagd“ die Rede. Als in Istanbul die Anwerbestelle eröffnet wird, steckt Österreich mitten in einer rasanten Prosperität. Knapp zehn Jahre zuvor hat der letzte Besatzungssoldat Wien verlassen, und genau seit dieser Zeit wächst die Wirtschaft des Landes jährlich um sechs Prozent. Die USA haben im Rahmen des Marshallplans finanzielle Spritzen verpasst, diese zeigen nun ihre Wirkung. Im Jahr 1961 wird die Vollbeschäftigung erreicht, und trotzdem warten in den Fabrikhallen, Handwerksbetrieben und kleinen Geschäften leere Arbeitsplätze auf ihre Besetzung.

Als Ende 1961 der damalige Gewerkschaftspräsident Franz Olah und der ehemalige Präsident der Wirtschaftskammer, Julius Raab, mit einem nach ihnen benannten Abkommen die Sozialpartnerschaft besiegeln, wird dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes Priorität eingeräumt. Bereits das ganze Jahr hindurch haben Unternehmervertreter laut nach einer Liberalisierung des Arbeitsmarktes gerufen. Die Gewerkschaft zeigt sich, wie sie es auch die darauffolgenden Jahre bleiben wird, skeptisch.

Zu einer Lösung kommt es trotzdem: Wirtschaftskammer und Gewerkschaft einigen sich auf „Gastarbeiter-Kontingente“. Jeder Betrieb darf in vereinfachter Bürokratie um ein bestimmtes Kontingent an Arbeitern ansuchen, die Bewilligungen werden für ein Jahr ausgestellt. Die Quote beträgt im Jahr 1964 bereits 35.000 Arbeiter, ein Jahr später sind es 50.000. Nicht einmal annähernd können diese Kontingente den Bedarf decken, zumal so viele Arbeiter gar nicht aufzutreiben sind. Was die Anwerbepolitik betrifft, hinkt Österreich Ländern wie Deutschland und der Schweiz hinterher. Die Bundesrepublik hat 1961 ein bilaterales Abkommen mit der Türkei abgeschlossen (andere europäische Länder wie Frankreich deckten ihren Arbeitskräftemangel mit Arbeitern aus ihrem ehemaligen kolonialen Besitz).

Die Schweiz praktiziert das Rotationsmodell mit einer einjährigen Arbeitsbewilligung, das vor allem saisonale Stellen befüllen sowie Wohn- und Familienkosten gering halten soll. Nun beginnt auch die österreichische Wirtschaftskammer, bilaterale Gespräche zu führen. Es ist der 15. Mai 1964, als die Türkei und Österreich die Entsendung und Aufnahme von Gastarbeitern besiegeln. Bereits einen Monat später kommen die ersten Männer auf dem Südbahnhof an; der Zug hat sie über die Strecke des berühmten Orient-Expresses nach Wien gebracht. Sie werden mit Blasmusik empfangen, vor der Halle warten die Busse der Arbeitgeber. Die meisten Männer tragen ihre besten Anzüge, und die meisten werden als ungelernte Arbeitskräfte eingestellt werden.

Keine Überschwemmung. In seinem Artikel, der 1961 in „Arbeit und Wirtschaft“ erscheint, gibt Franz Olah die Eckpunkte der Arbeiteranwerbung wieder, die sowohl die Politik als auch den offiziellen Umgang mit den Arbeitern in den folgenden Jahren charakterisiert. „Die Rückreise der Ausländer muss sichergestellt sein“, schreibt Olah. Eine „sanitätspolizeiliche Unbedenklichkeit“ müssen die Arbeiter bereits vor ihrer Einreise vorweisen können. Ein Abbau von Arbeitsplätzen müsse zuerst die Ausländer treffen, und „ausländische Arbeitskräfte dürfen nicht auf Arbeitsplätzen der Inländer beschäftigt werden“. Die Dauer der Beschäftigung soll ein Jahr nicht überschreiten. Zu diesem Zeitpunkt ist das Lohnniveau in Österreich im europäischen Vergleich vor Italien an vorletzter Stelle. Daher sei, so Olah, „mit einer Überschwemmung des österreichischen Arbeitsmarktes mit Fremdarbeitern nicht zu rechnen“.

Das von der Schweiz übernommene Rotationsprinzip erweist sich als unpraktisch für alle Beteiligten. Kaum ein Arbeitgeber will die bereits eingelernten Arbeitskräfte gegen neue austauschen. Überhaupt verliert die offizielle Anwerbung nach kurzer Zeit ihre Bedeutung. Die Anwerbepauschale zwischen 1200 und 2000 Schilling (und die bürokratischen Wege) können sich die Arbeitgeber sparen, indem sie ihre bereits eingestellten Arbeiter nach Namen fragen. Das Prinzip macht Schule: Die Männer, die bereits in Wien sind, holen ihre Bekannten und Verwandten nach. Die Art der Anwerbung ist nicht illegal.

Landflucht. Das bilaterale Abkommen mit der Türkei erweist sich für die österreichische Wirtschaft als fruchtbar, denn die türkischen Arbeiter kommen – im Gegensatz zu jenen aus anderen Ländern – tatsächlich. So schnell, wie in Österreich die Wirtschaft floriert, so schnell steigt in der Türkei die Bevölkerungszahl und somit die Zahl der Arbeitskräfte. Neu importierte Technologie zur Bestellung der Felder führt zu einer Landflucht und einer explodierenden Anzahl von Arbeitslosen in den Städten. Ankara erhofft sich durch die temporäre Abwanderung der Arbeiter kräftige Deviseneinnahmen – und nicht zuletzt die Schulung der Betroffenen, die hoffentlich gut ausgebildet wieder zurückkehren. Die Rückkehr ist das Ziel aller Beteiligten: Österreichs, der Türkei, der Arbeiter selbst. Viele Männer – in den Anfangsjahren wurden hauptsächlich sie angeworben – lassen ihre Familien in der Türkei zurück. Sie haben hehre Sparziele, die sie allerdings aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten zunächst kaum erfüllen können.

Die Gewerkschaft kann sich unterdessen nicht zu einer eindeutigen Meinung gegenüber den Gastarbeitern entschließen. Weder ist sie in der Lage, in den Konflikten zwischen in- und ausländischen Arbeitern zu vermitteln, noch agiert sie entschlossen als Interessenvertreter der ausländischen Arbeitnehmer. Für die Gewerkschaft bestimmt das Prinzip des Inländerprimats – der bevorzugten Beschäftigung von Inländern – lange Zeit die Verhandlungsposition. Mit der Beschäftigung von Ausländern befürchtet sie einen Lohndruck und somit eine geschwächte Position bei (Lohn-)Verhandlungen. Beim ÖGB-Bundeskongress 1971 ist schließlich eine Solidarisierung mit den Gastarbeitern herauszuhören, zehn Jahre später konstatiert sie, dass ausländische Arbeitnehmer „Schutz und Hilfe einer starken Gewerkschaftsbewegung“ benötigen. Es ist bereits der Beginn der 1980er-Jahre. Zu diesem Zeitpunkt arbeiten fast 900.000 Türken im Ausland.

Streik und Hilfe. Im Österreich der 1960er-Jahre ist Arbeitskraft derart rar gesät, dass Abwerber am Werk sind, die Arbeiter von einem Unternehmen in ein anderes locken. Dem Arbeiter selbst ist ein Wechsel zunächst nicht gestattet, wurde ihm doch für diese eine Firma eine Arbeitsbewilligung ausgestellt. Ein Wechsel ist ein Vertragsbruch. Diese Vereinbarung nutzen Unternehmer als Druckmittel. In dem Schreiben einer Metallerzeugungsfirma aus dem Jahr 1963 wird der Wirtschaftskammer mitgeteilt, „dass der türkische Arbeiter [...] heute tatsächlich unser Werk verlassen hat mit dem Bemerken, dass er sich eine besser bezahlte Stelle [...] suchen wird. Mit seinem Weggehen liegt ein Vertragsbruch vor. Wir bitten Sie, bei den Arbeitsämtern zu erwirken, dass ihm eine Anstellung bei einer anderen österreichischen Firma jedweder Branche versagt wird, sodass ihm nur die Möglichkeit bleibt, in die Türkei zurückzureisen.“

Das Verhältnis Arbeitgeber/Gastarbeiter lässt sich freilich nicht pauschal wiedergeben. Dokumente bezeugen, dass Firmeninhaber alles in Gang setzen, um ihre „guten Arbeiter“ halten zu können, andere zeigen sich verärgert, dass sich türkische Arbeiter über die Bedingungen in der Fabrik beschweren. Streiks sind genauso dokumentiert wie Abschiebungen und Hilfestellungen der Arbeitgeber, wenn der Arbeiter seine Familie nachholen möchte. Der Arbeitgeber bleibt aber lange Zeit aufgrund der fragilen rechtlichen Lage der Gastarbeiter die Person am Schalthebel – auch wenn er auf ihre Leistungen angewiesen ist. „Aufgrund äußersten Arbeitskräftemangels“, heißt es in einem von der Historikerin Vida Bakondy analysierten Dokument, „muss ich Sie heute, entgegen meiner bisherigen Abneigung gegen türkische Fremdarbeiter, ersuchen, mir unbedingt und möglichst sofort drei bis fünf Türken für meine Möbelfabrik zuzuteilen.“

Buchtipp

Mehmet Emir
Ich bin immer noch in Wien. Briefe an Mama und Papa in der Türkei.

Der Vater des Autors kam als Gastarbeiter nach Österreich, der Sohn folgte ihm als 16-Jähriger nach. In Briefform schildert Emir vom Leben
eines türkischen Emigranten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2014)

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