Endlich Ruhe! Ein Kopfhörer, der Schall schluckt

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Schall auszulöschen ist noch weit komplexer, als ihn herzustellen. Wissenschaftler der Kunstuniversität Graz schaffen mit ihrer Forschung im Bereich Sounddesign neue Perspektiven für Menschen in lauter Umgebung.

Schauplatz Großraumbüro: ein ständiges Kommen und Gehen, Telefone klingeln, der Kollege schreit ins Handy, weil er den Gesprächspartner nicht hört. Wer hier Ruhe sucht, versucht mitunter, sich mit Musik abzuschirmen, und dreht dann richtig laut auf.

„Die Lärmbelastungen addieren sich aber. Die Person ist dadurch noch stärkeren Reizen ausgesetzt“, sagt Alois Sontacchi vom Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunst-Uni Graz. Gemeinsam mit seinem Dissertanten Markus Guldenschuh arbeitet er im Rahmen des K-Projekts Acoustic Sensing & Design an einem Kopfhörer, der störenden Schall schluckt und nur erwünschten Schall wiedergibt.

„Ziel ist, den Schall des Umgebungslärms zu reduzieren und zugleich nur die Informationsquellen einzuspielen, die gebraucht werden.“ Das potenzielle Anwendungsspektrum ist breit: Ein Kopfhörer, der vor Schall schützt, könnte überall relevant sein, wo Menschen unter Lärmbelastung arbeiten, etwa auf Baustellen. Aber auch bei Flugreisen oder dem Sommerausflug mit dem Motorrad ließen sich unerwünschte Geräusche reduzieren.

Das Forschungsfeld firmiert unter dem Titel Active Noise Cancellation. Es geht darum, das ursächliche Schallfeld zu analysieren. Dann produzieren die Forscher den gleichen Schall mit gegenphasiger Schwingung. Die beiden um 180 Grad verschobenen Sinusschwingungen heben sich auf, es herrscht wieder Ruhe. Zumindest in der Theorie, denn in der Praxis hält sich der Schall nicht an Laborbedingungen.

Schall auslöschen. „Das Grundprinzip ist einfach, solange die Bedingungen gleich bleiben“, sagt Sontacchi. Im Raum liegen schwierigere Bedingungen vor: „Durch Reflexionen kommt der Schall einer Lärmquelle aus verschiedenen Richtungen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten bei unseren Ohren an.“ Damit ist er nicht mehr so leicht auszulöschen. „Hier haben wir keine konstante Sinusschwingung, sondern eine Überlagerung von unzähligen, sich ändernden Sinusschwingungen“, so Dissertant Markus Guldenschuh. Wenn sich die Person bewegt, werde es schwierig. Auch wie der Kopfhörer am Ohr sitzt, spiele eine grundlegende Rolle. Und: „Jeder Mensch hat ein anders geformtes Ohr.“

Bisher auf dem Markt erhältliche Produkte haben lediglich fixe Voreinstellungen. Gesucht wurde also ein Konzept für einen intelligenten Kopfhörer, der sich den unterschiedlichen Bedingungen flexibel anpasst.

Analoge Signale.
Hier begann die Herausforderung für die Forscher, die üblicherweise Sound gestalten: meist für professionelle Bühnenauftritte, aber auch für Industrieprodukte wie Motoren. Sie sind sich einig: „Ein Geräusch wegzunehmen ist schwieriger, als eines zu kreieren.“ Beide haben als Basis für ihr Wissen Elektrotechnik-Toningenieurwesen studiert, ein Studium an der Schnittstelle von Kunst und Technik, das es nur in Graz gibt. Dass ihre Systeme unter möglichst allen Umständen funktionieren müssen, sind sie gewohnt. „Wenn Künstler mit speziellen Wünschen auf uns zukommen, etwa Stimmen in Echtzeit elektronisch verändert werden sollen, entwickeln wir Ingenieurstechnik bis zur Konzertreife.“

Die Wissenschaftler kehren für ihre Arbeit ins analoge Zeitalter zurück. Ein digitales Signal könne zwar gut geformt und angepasst werden, die notwendige Umwandlung brauche aber zu viel Zeit. „Wir müssen in Echtzeit agieren. Übersetzt man das Signal in ein digitales, hat sich der Schall ausgebreitet, bis wir handlungsfähig sind.“ In der Zwischenzeit könnten sich Änderungen im System oder der Umwelt ergeben, die das Resultat beeinflussen. „Das Zeitfenster ist einfach zu groß.“ Außerdem kosten digitale Lösungen mehr Energie, Bauteile wie Computerchips sind teurer. Ziel ist daher, einen völlig analogen Prototyp zu schaffen.

Da ein Kopfhörer hohe Frequenzen von außen weitgehend selbst dämpft, lag der Schwerpunkt auf den tiefen Frequenzen. Diese seien grundsätzlich leichter zu bekämpfen, so die Forscher. „Uns interessiert der Bereich, ab dem das Ohr empfindlich ist. Wir fokussieren dabei auf eine Frequenz von 20 Hertz bis höchstens vier Kilohertz, also von der minimalen bis zur maximalen Empfindlichkeit.“


Ausbreitung voraussagen. Besonderer Forschungsschwerpunkt am Institut ist die sogenannte Binauraltechnik: Dabei werden Mikrofone speziell angeordnet, bei der Wiedergabe über den Kopfhörer entsteht ein realitätsnaher räumlicher Höreindruck. Die Forscher suchen nach Informationen, die diesen Höreindruck bewirken, und bilden sie mit mathematischen Funktionen nach. Erkenntnisse daraus nutzen sie auch für den Schall schluckenden Kopfhörer.

Die Forscher wollen Informationen über den Schall haben, noch bevor er sich ausbreitet: Anhand von Signalen aus der Vergangenheit wollen sie voraussagen, wie sich Signale künftig ausbreiten. „Wir vermessen den akustischen Weg von der Quelle bis zum Ohr und modellieren ihn“, so Guldenschuh. Entscheidend ist die Richtung, aus der der Schall kommt. Die Forscher spielen dazu Messsignale ab und bestimmen, wie diese aus verschiedenen Richtungen ankommen. Zudem variieren sie die Position des Kopfhörers am Ohr. Ein Mikrofon außen und innen am Kopfhörer wirkt dabei als Sensor.

Kunstköpfe im Einsatz. Wichtige Ansätze für ihre Arbeit übernahmen sie aus einem Vorgängerprojekt: Bis 2013 stand im K-Projekt Advanced Audio Processing im Fokus, wie sich die Qualität von Schallquellen erfassen und bewerten lässt. Für objektive Messungen nutzte man Kunstköpfe aus Kunststoff mit Ohren aus Silikon. „Wo beim Menschen das Trommelfell sitzt, sind Mikrofone eingebaut.“ Allerdings: „Ein Kunstkopf gibt keine Rückmeldung. Wir haben daher auch mit Versuchspersonen gearbeitet und diese zu ihrer Klangwahrnehmung befragt.“

Die Forscher stellten fest: Für einen Kopfhörer, der die vielen unterschiedlichen Bedingungen berücksichtigt, wären etwa 300 verschiedene Filter notwendig. Je mehr Filter für den Kopfhörer genutzt werden, desto genauer gelingt es, die Schallinformationen aufzuschlüsseln.

Für die Praxis ist das aber untauglich: Viele Filter machen eine große Speicherkapazität notwendig. „Die Signalnachführung in Echtzeit ist mit einem schnellen Speicherzugriff und einer hohen Rechenlast verbunden. Die Geräte benötigen zu viel Energie“, so Sontacchi und Guldenschuh. Die technischen Daten allein sind aber nicht ausschlaggebend: Der Kopfhörer würde groß und schwer und dadurch zu sperrig für den Nutzer.

Die Forscher verfolgten daher die Idee, wenige Filter zu kombinieren und dadurch möglichst viele Schallszenarien beherrschen zu können. Aus großen Datenmengen errechneten sie Korrelationen und analysierten Ähnlichkeiten zwischen den Variablen. So gelang es, die drei passendsten Filter zu identifizieren. Werden diese elektronisch unterschiedlich gewichtet, lassen sie sich für möglichst viele Situationen nutzen.

„Damit ein System robust ist, muss es möglichst einfach sein“, so die Forscher, die mit ihrem Ansatz eine neue Perspektive für einen vielseitig einsetzbaren Kopfhörer geschaffen haben.

In Kürze

Die Forschung ist in das K-Projekt „Acoustic Sensing & Design“ eingebettet, das die steirische Forschungsgesellschaft Joanneum Research koordiniert. Wissenschaftler nehmen darin das menschliche Ohr als feines Sinnesorgan, das Geräusche filtern kann, zum Vorbild für technische Lösungen.

K-Projekte sind Teil des Kompetenzzentrenprogramms COMET (Competence Centers for Excellent Technologies), getragen von der Österreichischen Forschungförderungsgesellschaft FFG. Sie sollen Raum für Ideen in der gemeinsamen Forschung von Wissenschaft und Wirtschaft bieten. Unternehmenspartner des Grazer Projekts ist u.a. AKG Acoustics.

Tontechnik

Interferenz: Überlagern sich zwei oder mehr Wellen, addieren sich die Schwingungen. Löschen sich die Wellen dabei gegenseitig aus, spricht man von destruktiver Interferenz.

Active Noise Cancellation: Darunter versteht man Schall, der künstlich erzeugt wird, um mittels destruktiver Interferenz Schall auszulöschen. Dazu wird ein Signal erzeugt, das dem des störenden Schalls mit genau entgegengesetzter Polarität entspricht. Kunstuni Graz

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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