Südamerika – ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abstieg

Universum 'Brasilien - Wilde Natur'
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Von mehr als "Jogo bonito" in Brasilien bis Profi-Populismus in Ecuador. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der südamerikanischen Staaten.

Brasilien: Mehr als „Jogo bonito“

Brasilia. Ob der holprige WM-Auftakt die Zweifel der Brasilianer wirklich zerstreuen kann? In den letzten Umfragen glaubte eine Mehrheit der Brasilianer nicht daran, dass die WM dem Land wirtschaftlich mehr Nutzen als Nachteile bringen wird. Verbittert vermerken die Bürger, dass vor allem die Infrastrukturprojekte nicht rechtzeitig oder gar nicht realisiert wurden. Viele der teureren Stadien werden nach der WM zu nutzlosen „weißen Elefanten“, weil es weit und breit keinen Erstligaverein gibt, der sie bespielen könnte.

Präsidentin Dilma Rousseff verzichtete vor dem Eröffnungsspiel am Donnerstag auf eine eigene Ansprache, doch sie musste sich von den Rängen Beschimpfungen anhören, die derart ordinär waren, dass sich eine wörtliche Übersetzung verbietet. In der Megametropole São Paulo, dem Wirtschaftszentrum, sind in den letzten Jahren die Lebenshaltungskosten explodiert. Viele Menschen können es sich kaum noch leisten, in dem überfüllten Moloch zu leben und zu leiden.

Unternehmen und Verbraucher leiden unter hohen Steuern und ausufernder Bürokratie. „Europäische Steuern für afrikanische Leistungen“ – dagegen protestiert die Mittelschicht. Brasiliens Boomjahre sind lange passé. Konsumspritzen wie unter Präsident Lula wirken nicht mehr, weil die Verbraucher inzwischen erheblich verschuldet sind. Die Wirtschaft wächst mit weniger als zwei Prozent, aber die Inflation übersteigt sechs Prozent. Die Ratingagentur Standard & Poor's bewertet die Bonität brasilianischer Staatsanleihen nur eine Stufe über Ramschniveau. In São Paulo droht nun auch noch Energieknappheit. Denn die Reservoirs der Wasserkraftwerke sind weitgehend ausgetrocknet.
Für Dilma Rousseff ist die noch vor Monaten als mühelos eingeschätzte Wiederwahl keineswegs garantiert. Die Kandidatin der Arbeiterpartei liegt in jüngsten Umfragen bei 38 Prozentpunkten, ihre zwei liberaleren Kontrahenten, Aecio Neves und Eduardo Campos, kommen auf 22 bzw. zwölf Prozent. Aber: Noch ist ein Drittel der Wähler unentschieden. Früher galt Rousseff als Fußballmuffel. Nun hat sie sich zu einem großen Fan der Seleção entwickelt. Allen dürfte klar sein, dass es um mehr geht als „Jogo bonito“, das schöne Spiel.

Uruguay – der heimliche Star

Montevideo. Mehr als allen anderen südamerikanischen Ländern gelang es dem Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentinien in den vergangenen Jahren, die Armut zu reduzieren. Das britische Magazin „Economist“ adelte Uruguay im Vorjahr gar als „Land des Jahres“. Der 79-jährige Präsident José Mujica, genannt El Pepe, der durch seine Biografie Glaubwürdigkeit vermittelt und durch seine demonstrative Bescheidenheit Popularität genießt, hat sich als Vorreiter in Gesellschaftsfragen profiliert – etwa bei der Legalisierung von Cannabis. Zudem machte er durch die Aufnahme mehrerer Guantánamo-Häftlinge von sich reden. Er avancierte so zu einem Polit-Star, als erster Präsident Uruguays kam er zur Ehre einer Einladung ins Weiße Haus.
Bei der Parlamentswahl im Herbst deutet alles auf eine Wiederwahl des Premierministers Tabaré Vasquez hin, eines Onkologen. Er steht für eine Fortsetzung der sozialdemokratischen Politik. Vasquez gilt als Vater der härtesten Antitabak-Gesetzgebung der Welt, weshalb Uruguay mit dem Tabakkonzern Philip Morris im Clinch liegt.

Kolumbien: Krieg oder Frieden?

Bogotá. An diesem Sonntag werden die Kolumbianer in einer Präsidentschaftsstichwahl nicht nur zwischen den zwei Kandidaten entscheiden, sondern auch über Frieden oder Krieg. Amtsinhaber Juan Manuel Santos, der in den vergangenen zwei Jahren die in Kuba abgehaltenen Friedensverhandlungen mit den Rebellen der Farc (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) forcierte, landete nach dem ersten Wahlgang hinter ?scar Iván Zuluaga, dem Kandidaten des Ex-Präsidenten Alvaro Uribe.
Zuluaga argumentiert, wie sein Förderer Uribe, der bewaffnete Kampf der Guerillas sei kein Krieg, sondern Terrorismus, den es so lang militärisch zu bekämpfen gelte, bis die Rebellen aufgäben. Bei Santos' Friedensverhandlungen würden die Farc viel zu gut aussteigen und kämen womöglich gar ohne Strafe davon. Tatsächlich hat die linke Guerilla den Staat jahrzehntelang terrorisiert und durch Entführungen – wie etwa der grünen Politikerin und Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt – herausgefordert. Finanziert hat sie den Kampf gegen die Regierung in Bogotá durch einen schwunghaften Drogenhandel im Dschungel, wo sie einen Staat im Staat errichtet hat.
Wie sein Mentor Uribe zeiht Zuluaga den aktuellen Präsidenten Santos des Verrats, denn er habe bei seiner Wahl von Uribes Popularität profitiert – Santos war zuvor als Verteidigungsminister unter Uribe für den harten militärischen Kurs gegen die Guerilla-Bewegungen Farc und ELN verantwortlich. Ideologisch trennt die beiden Kandidaten indessen nicht sehr viel. Beide sind wirtschaftsliberale Anhänger des freien Handels. Eines steht nach dem Wahlgang aber bereits fest: Kolumbien, die bevölkerungsreichste Nation Südamerikas hinter Brasilien – wird auch nach der Wahl auf seinem stabilen Wachstumskurs bleiben.

Polarisierung in Venezuela

Caracas. Seitdem Mitte Februar die Studenten zu protestieren begonnen haben, kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Die Regierung von Nicolás Maduro antwortete mit allen legalen und auch einigen illegalen Mitteln. So tauchten auf den meisten Demos die dubiosen Motorräder ohne Nummernschilder auf, deren Beifahrer in die Luft, aber auch manchmal in die Menge feuerten. Oppositionsführer Leopoldo López sitzt seit Februar in Haft; María Corina Machado wurde mit fadenscheiniger Begründung ihr Abgeordnetenmandat entzogen, und nun droht ihr das gleiche Schicksal wie ihrem Mitstreiter López. Die anderen südamerikanischen Länder, die sich jeder öffentlicher Kritik enthielten, brachten die Regierung in Caracas jedoch vom ganz harten Konfrontationskurs ab.
Im Vergleich zu Februar/März ist es heute ruhiger in Caracas, aber der Eindruck ist trügerisch. Denn alle Gründe der Proteste, vor allem die katastrophale Wirtschaftslage, sind weiter virulent. Die gesamte Bevölkerung – Chávisten und AntiChávisten – verbringt einen Großteil ihrer Zeit in Warteschlangen, es fehlen Grundnahrungsmittel und Hygieneprodukte, und es mangelt inzwischen auch an Medikamenten. Die Inflation steigt stetig, und ausländische Airlines stellten ihre Flüge nach Venezuela ein. Die Kriminalität – Venezuela hat die höchste Mordrate Südamerikas – ist nicht zu stoppen.
Die Regierung in Caracas brauchte dringend Geld, tastet aber aus Angst vor einem Volksaufstand den Benzinpreis nicht an. Fast 20 Milliarden Dollar an Subvention gibt die klamme Regierung aus, um den Liter Treibstoff bei drei Euro-Cents zu halten. Die Autofahrer sind trotzdem unzufrieden, denn Ersatzteile kommen seit Langem nur noch unregelmäßig ins Land, weil der Regierung die Dollars für Importe fehlen.

Peru – Darling der Finanzwelt

Lima. Kein Land hat vom Aufstieg Chinas mehr profitiert als der Andenstaat. Seit 15 Jahren wächst die Wirtschaft des in den 1980er- und 1990er-Jahren von Guerillakrieg und Staatskrisen gebeutelten Landes – und das mit durchaus gesunden Raten zwischen vier und sechs Prozent. Peru bekam die Inflation in den Griff, das Land hat sich dem freien Welthandel verschrieben.
Peru ist zusammen mit Chile und Kolumbien ein Darling der internationalen Finanzindustrie. Dabei fällt es zunächst wenig auf, dass der gewachsene Wohlstand sehr ungleich verteilt ist. Vom Boom haben die Ärmeren weitaus weniger profitiert als die Eliten in der Hauptstadt Lima. Die Zeichen stehen indessen weiter auf Wachstum.

Bolivien: Morales' linke Sprüche

La Paz. Am 11. Oktober wählt das Land seinen Präsidenten, und niemand rechnet damit, dass „El Evo“ die Macht verlieren könnte. Allerdings zeichnet sich ab, dass Evo Morales und sein „Movimento al Socialismo“ die absolute Mehrheit einbüßen könnten. Inzwischen haben sich links von Morales diverse Gruppen formiert, die unter seinen indigenen Stammwählern wildern. Sie kopieren die erfolgreiche Politik des früheren Führers der Koka-Gewerkschaft. Bei allen linken Sprüchen und der Freundschaft zu Hugo Chávez ließ Morales nie zu, dass die Inflation davongaloppierte. Sein Wirtschaftsteam überzeugte den IWF sogar, Bolivien Milliardenkredite zu vier Prozent Zinsen zu gewähren. Das Wirtschaftswachstum kletterte auf sechs Prozent.

Argentinien: Eine Ära geht zu Ende

Buenos Aires. Nach elf Jahren an der Macht geht die Ära der Familie Kirchner allmählich zu Ende. Im kommenden Jahr kann Präsidentin Cristina Kirchner nicht mehr antreten – und selbst wenn sie es denn könnte, stünden die Chancen schlecht. Kirchners Modell einer staatlich subventionierten Konsumfiesta zeigt inzwischen deutliche Risse. Um wirtschaftliche Aktivität zu erzeugen und damit Beschäftigung zu garantieren, subventionierte die Kirchner-Regierung Unternehmen und Haushalte mit Billigstrom, Wasser und Gas. Und sie nahm eine zweistellige Inflationsrate in Kauf.

Das Konstrukt kippte, seit vor vier Jahren die Energiesouveränität verloren ging und das Land Gas und Petroleum teuer einkaufen muss. Inzwischen steckt das Land in der Rezession, die Inflation verheert vor allem die Einkünfte der ärmeren Schichten. Das vor allem, weil sich die Kirchners seit Jahren mit den mächtigen Farmern streiten, was die Lebensmittelpreise im Agrarland explodieren ließ. Ein Tetrapack Milch kostet in Buenos Aires so viel wie in Wien, aber die Hälfte der Bevölkerung verdient nicht mehr als 300 Euro im Monat.

Nun versucht die Regierung überstürzt eine Kurswende, die all jene orthodoxen Ingredienzien aufweist, die Präsidentin Kirchner in ihren TV-Reden immer namentlich verteufelt hat: Dieses Jahr wurden der Peso abgewertet und der Leitzinssatz verdoppelt. Das würgte den Konsum völlig ab. Nun stehen die Kernindustrien, insbesondere in der Auto- und Elektrobranche vor Massenentlassungen. Es häufen sich soziale Proteste, die noch zunehmen werden, wenn bald, wie lange angekündigt, die absurd niedrigen Preise für Strom, Gas und Wasser angehoben werden.
Die Regierung hofft auf einen Erfolg der Albiceleste bei der Fußball-WM beim Erzrivalen Brasilien, um die schlechten Nachrichten im nationalen Freudentaumel unter die Leute zu bringen. Außerdem hofft Kirchner, dass ein Siegeszug von Lionel Messi & Co, das derzeitige Topthema verdrängt: die anstehende Anklage gegen Kirchners Vizepräsidenten, Amado Boudou. Der zuständige Bundesrichter ist, entgegen vielen Prognosen, nicht unter dem massiven Druck der Regierungsseite eingeknickt und wird in den kommenden Wochen wohl Anzeige erheben. Boudou wird vorgeworfen, er habe über Strohleute jene Fabrik übernommen, die Argentiniens Geldscheine druckt und sich dann selbst millionenschwere Druckaufträge gegeben.

Chile – Die zweite Ära Bachelet

Santiago de Chile. Im ersten Jahr ihrer zweiten Amtszeit warten große Aufgaben auf Michelle Bachelet, die charismatische Präsidentin und Ärztin, die während ihres Exils in der DDR studiert und zwischen ihren Amtszeiten bei den Vereinten Nationen als Untergeneralsekretärin für Frauenbelange in New York agiert hat. Sie muss in Zeiten sinkender Rohstoffeinnahmen ihre wichtigsten Wahlversprechen einlösen und dabei ihre extrem bunte Koalition zusammenhalten. Ihre Nueva alianza umfasst Kräfte von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten.
Bachelet will mit einer großen Steuerreform vor allem von den Superreichen die Mittel bekommen, um das private und schlechte Bildungssystem wieder weitgehend unter staatliche Fittiche zu nehmen. Schrittweise sollen zunächst die Zahl der staatlichen Stipendien erhöht und gleichzeitig die kommerziellen Privatschulen und Universitäten zurückgedrängt werden. Eine Protestwelle unter Chiles Studenten hat vor Beginn der zweiten Ära Bachelet über Santiago de Chile hinaus für Furore gesorgt.

Paraguay in ruhigen Wassern

Asuncíon. Das Land im Herzen des Kontinents, eingezwängt von den südamerikanischen Riesen Brasilien und Argentinien – im Dreiländereck liegen die Iguazu-Wasserfälle und der ehemalige Jesuitenstaat –, verzeichnete im Vorjahr das Rekordwachstum von 13 Prozent, was allerdings allein auf eine gute Sojaernte zurückzuführen war.
Dennoch ist Paraguay, das vor zwei Jahren mit der Absetzung des linken Priesterpräsidenten und Befreiungstheologen Fernando Lugo an den Rand der Instabilität gekippt ist und in dem Diktator Alfredo Stroessner mehr als drei Jahrzehnte lang geherrscht hat, unter dem seit knapp einem Jahr amtierenden Staatschef Horacio Cartes wieder in ein ruhiges Fahrwasser zurückgekehrt („Wasser, das zu Wasser geht“ bedeutet auch der Name des Staats).
Cartes – Multimillionär, Unternehmer, Fußballboss – erfüllt alle linken Klischees der lateinamerikanischen Oberklasse. Bei Cartes, der Paraguays Machtmaschine Partido Colorado hinter sich weiß, kommen noch ein paar Details hinzu: Die US-Drogenbehörde DEA ermittelte gehen ihn wegen Drogenschmuggels, Geldwäsche und illegalen Imports von Zigaretten. Außerdem hatte seine Familie die Generalvertretung der US-Privatjet-Firma Cessna. Bis heute gilt Paraguay, ein Land ohne Radarüberwachung, als wichtiger Drogenumschlagplatz.

Ecuador: Profi-Populismus

Quito. Entgegen allen früheren öffentlichen Ankündigungen will Präsident Rafael Correa nun doch die Verfassung ändern, um auch noch für weitere Amtszeiten kandidieren zu können. Die jetzige, unter Correas Führung verabschiedete Verfassung erlaubt lediglich zwei Amtszeiten. Der 51-jährige Ökonom ist seit dem Vorjahr bereits in seiner zweiten Runde im Präsidentenpalast.
Nachdem bei den Kommunalwahlen mehrere Kandidaten der Opposition gewannen – unter anderem in der Hauptstadt Quito –, beschloss Correa, seine immer noch hohe Popularität für eine mögliche Wiederwahl einzusetzen. Anders als seine Verbündeten in Venezuela regiert er das Land mit Professionalität und Effizienz, und darum genießt Correa immer noch uneingeschränkte Popularität.
Die massive Einschränkung der Pressefreiheit und sein ausgeprägter Personenkult haben ihm bisher nicht geschadet. Nach Ausbruch der Proteste in Venezuela wittert er nun eine von den USA orchestrierte Verschwörungswelle gegen die linken Regierungen Lateinamerikas. „Seht hin, wie sie Venezuela schon in Schach halten. Täuscht euch nicht, wir werden die Nächsten sein!“ Er hofft darauf, dass sein – linker – Populismus bei den Wählern weiterhin attraktiv ist.
International fiel Ecuador vor allem dadurch auf, dass es dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange in der Botschaft in London politisches Asyl gewährte.

AUF EINEN BLICK

Südamerika. Die Aufmerksamkeit für den Halbkontinent verläuft in Wellen. Nach einer Hausse in den 1970er- und 1980er-Jahren infolge der Befreiungsbewegungen und der Befreiungstheologie ist Südamerika danach weitgehend aus dem Blickwinkel des Westens verschwunden.
Die Fußball-WM in Brasilien rückt nicht nur das Austragungsland ins Rampenlicht, sondern auch den Kontinent von der kolumbischen Karibikküste bis zum Feuerland. Vor allem das rohstoffreiche Brasilien gab als aufstrebendes Schwellenland und Mitglied im sogenannten BRICS-Klub zu Beginn des neuen Jahrtausends Anlass zur Hoffnung, während zur gleichen Zeit Argentinien in eine wirtschaftliche Depression verfiel. Nun profilieren sich Länder wie Chile als Musterdemokratien.

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