Psychologie: Wenn Menschen wie Tiere beißen

(c) REUTERS (TONY GENTILE)
  • Drucken

Wieso wirkte der Biss des Fußballers Luis Suárez so erschreckend? Weil wir Menschen beim Kämpfen typischerweise die Fäuste statt der Kiefer einsetzen.

Es ist eine normale Bewegung, solche Dinge passieren auf dem Platz“: So kommentierte der uruguayische Stürmer Luis Suárez seinen Biss in die Schulter seines italienischen Gegners Giorgio Chiellini. Dieser sah das naturgemäß nicht so entspannt und reagierte entsetzt – deutlich entsetzter, als er auf einen heftigen Tritt oder einen Faustschlag reagiert hätte.

Woher dieses Entsetzen kommt, drückte Oliver Kahn als Kommentator im ZDF am klarsten aus: „Das ist ein Verhalten, das man sonst nur von Tieren kennt.“ Wobei Kahn, als er noch Tormann beim FC Bayern München war, selbst einmal unter dem Verdacht stand, er habe einen Gegner, nämlich Heiko Herrlich von Borussia Dortmund, gebissen. Dieser beschwichtigte jedoch: „Gebissen hat Kahn mich nicht, nur geknabbert, jedenfalls hatte ich kein Loch im Hals.“

Tatsächlich unterscheidet den Menschen von anderen Tieren, dass er beim Kämpfen selten beißt. Das stellte unlängst der US-Biologe David R. Carrier in „Biological Reviews“ (9. 6.) fest. Carrier, der sich als Friedensforscher versteht, glaubt dabei gar nicht, dass der Mensch ein besonders friedfertiges Wesen ist, ganz im Gegenteil: Er nennt uns die „gewalttätigsten Wirbeltiere auf unserem Planeten“. Typisch für uns ist aber, dass wir diese Gewalt mit Fäusten ausüben: Nur wir können die Hände zu Fäusten ballen – und damit auf andere einschlagen, vorzugsweise auf das Gesicht. Das, so Carrier, habe im Lauf unserer Evolution auch das Gesicht unserer Vorfahren verändert: Es sei just dort robuster geworden, wo Schläge am meisten Knochen bedrohen: Unterkiefer, Nase, Augenhöhle.

Diese „schützende Verstärkung des menschlichen Gesichts“, wie Carrier es nennt, sei bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen: Um diese – und um Reviere – hätten unsere männlichen Vorfahren mit Fäusten gekämpft. (Und später mit Waffen, was ermöglichte, dass die Gesichter wieder zarter wurden.) Nicht mit Zähnen und nicht mit Fingernägeln. Es mag sein, dass das Klischee, dass Mädchen beim Raufen im Gegensatz zu Burschen eher kratzen, auf diesen alten Geschlechterunterschied zurückzuführen ist.

Jedenfalls gilt uns Beißen als primitiv, als tierisch, als archaisch, als Rückfall in eine Zeit, in der wir noch mehr Affen als Menschen waren, auf allen Vieren gingen und schnüffelten. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Tollwut als eine so grauenhafte Krankheit gilt: weil sie Menschen zu schäumenden, beißenden Tieren macht. Erfahrungen mit Tollwütigen haben wohl auch die Horrorgestalten der Werwölfe und Vampire inspiriert. Dass in dem höchst populären Roman und Film „Twilight“ ein Teenager-Mädchen herausfinden muss, dass ein Geliebter ein Vampir ist, lässt sich zwanglos so interpretieren: Sexualität hat gerade für Heranwachsende oft etwas Unheimliches, Tierisches. Der Liebesbiss gilt ja auch als Zeichen besonderer Hemmungslosigkeit.

Freudianer sehen die Neigung zum Beißen auch als individuellen Rückfall in eine frühere Phase des Lebens: in die oral-sadistische Phase (6. bis 12. Lebensmonat), die von der Lust am Beißen und Kauen dominiert – statt der Lust am Saugen und Lutschen, die die frühe orale Phase regiert.

Wir beißen keine Tiere tot

Wobei auch der strengste Freudianer zugeben wird, dass beide Lüste zumindest beim Essen und Trinken auch bei Erwachsenen noch eine große Rolle spielen. Wer nicht Vegetarier ist, beißt gern in tierisches Fleisch. Allerdings nur, wenn das Tier bereits tot (und womöglich gekocht) ist: Die Vorstellung, ein Tier durch einen Biss zu töten, ist den allermeisten Menschen unerträglich – auch denen, die bereit sind, es mit Händen ums Leben zu bringen. Auch das zeigt, wie weitgehend unsere Mundpartie die Funktion als Waffe abgelegt hat.

Oft war in der Debatte über Suárez von „Beißhemmung“ die Rede, die diesem fehle. Das Wort hat Konrad Lorenz für Wölfe und Hunde geprägt – und sich dabei geirrt. Seine These, der unterlegene Wolf biete dem Überlegenen absichtlich seine schwächste Stelle dar und wecke damit in diesem eine Beißhemmung, war falsch. Das fand der Lorenz-Schüler Erik Zimen heraus. Und er klagte, dass die Idee, dass bei Hunden der Sieger den Verlierer einfach nicht töten könne, bei Hundeexperten immer noch verbreitet sei – „und dies noch oft mit einem moralischen Unterton, wie zweckdienlich die Natur doch sei und wie schrecklich der Mensch . . .“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.