Syrien: „Das ist dort mehr als ,nur‘ ein Bürgerkrieg“

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Syrien drohe ein Völkermord, warnt Michael Abramowitz vom US Holocaust Memorial Museum in Washington.

Die Presse: Herr Abramowitz, Sie haben für das US Holocaust Memorial Museum das riesige Lager für syrische Flüchtlinge im jordanischen Zaatari besucht. Was haben Sie dort gesehen?

Michael Abramowitz: Eine der größten humanitären Tragödien unserer Zeit. Die Größe dieser Krise wird einem nur ansatzweise bewusst, wenn man die Zeitung liest oder fernsieht. Wenn man dort an der syrischen Grenze steht und sieht, wie Flüchtlinge mit vier, fünf, sechs Kindern kommen, ist das zutiefst bewegend.

Wieso interessiert sich das Holocaust-Museum für den syrischen Bürgerkrieg?

In den knapp mehr als zwei Jahrzehnten, die es unser Museum gibt, war es stets ein Teil unserer Mission, das Bewusstsein für Gegenden zu schärfen, in denen Völkermord und damit verwandte Verbrechen gegen die Menschlichkeit drohen. Unsere Hauptaufgabe ist natürlich die Bewahrung des Gedenkens an den Holocaust. Unsere Gründer, allen voran Elie Wiesel, wollten aber, dass das Museum eine lebende Gedenkstätte ist. Darum achten wir sehr genau auf aktuelle Krisenfälle. Wir konzentrieren uns dabei auf jene Verbrechen, die den Zweck haben, ganze Bevölkerungsgruppen auszulöschen. Wir sind sehr vorsichtig bei der Auswahl der Fälle, in denen wir uns einbringen.

Und so haben wir uns zwei, drei Jahre lang angeschaut, wie die syrische Krise voranschreitet. Sie begann als Teil des Arabischen Frühlings, als Aufstand gegen das Assad-Regime. Doch in den letzten ein, zwei Jahren hat es einen konfessionellen Charakter angenommen, indem Assad bewusst versucht, das Volk zu radikalisieren und sich als Beschützer der alawitischen Minderheit aufzuspielen. Wir versuchen klarzumachen, dass das mehr als ,nur‘ ein Bürgerkrieg ist.

Können Sie den Moment benennen, wann der syrische Bürgerkrieg von einem Aufstand zu einem Völkermord oder zumindest etwas Ähnlichem geworden ist?

Da wäre ich vorsichtig. Viele Forscher würden das, was in Syrien derzeit geschieht, nicht als Völkermord bezeichnen. Es gibt aber das Risiko völkermörderischer Handlungen. Mich erinnert die Lage an die Balkankriege. Damals gab es gleichermaßen die Aufspaltung der Bevölkerung entlang ethnischer Linien, Massenvertreibungen und im Rahmen all dessen einen Völkermord in Srebrenica. Ich würde das am ehesten als Massengrausamkeit bezeichnen. Und wir müssen aufpassen: Es gibt das Risiko des Völkermordes gegenüber den Alawiten. Die Regierung ist nicht allein schuldig. Aber sie hat die Verantwortung, ihre Bürger vor diesen Grausamkeiten zu schützen.

Nicht nur das: Sie begeht sie.

Genau. Sie ist die Täterin. Mich hat tief erschüttert, wie schwer es sein wird, Syrien jemals wieder aufzubauen. Das Land ist kaputt. Mehr als neun Millionen Syrer haben ihr Zuhause verloren, mehr als drei Millionen sind aus dem Land geflohen.

Der syrische Bürgerkrieg, Grausamkeiten in Zentralafrika, im Südsudan und an vielen anderen Orten der Welt: Was ist die völkerrechtliche Doktrin von der Verantwortung, die eigenen Bürger zu schützen, heute noch wert – zumal niemand von außen intervenieren will?

Ich versuche, zugleich realistisch und voller Hoffnung zu sein. In Syrien gab es ein kolossales Scheitern. Aber ich denke, es gibt Orte, an denen die Welt wirksamer darauf hinarbeitet, massenhafte Gewalt zu verhindern. Denken Sie an Kenia. Nach der Präsidentenwahl 2007 wurden Tausende wegen der Zugehörigkeit zu dieser oder jener Volksgruppe getötet. Seither achten die Kenianer, ihre Nachbarstaaten und die Völkergemeinschaft sehr genau darauf, einer Wiederholung solcher Gewalttaten vorzubeugen. Ich bin überzeugt, dass sich das andernfalls viel schlimmer entwickelt hätte. (go)

ZUR PERSON

Michael Abramowitz beschäftigt sich im US Holocaust Memorial Museum in Washington mit der Frage, wie man Völkermorde frühzeitig erkennen und ihnen vorbeugen kann. Der frühere leitende Redakteur der „Washington Post“ hat im Frühjahr syrische Flüchtlingslager in Jordanien besucht und mit Vertriebenen und Helfern über die Lage in Syrien gesprochen. Das Museum, 1993 auf Betreiben des Friedensnobelpreisträgers und Auschwitz-Überlebenden Elie Wiesel gegründet, ist eine der weltweit führenden Stätten zur Erfassung und Erforschung des Völkermordes an den Juden sowie neuer Genozide. [ US Holocaust Memorial Museum]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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