„Die Karte meiner Träume“: Ein Film der schönen Lüge

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„Die Karte meiner Träume“ von Jean-Pierre Jeunet: ein heiterer, harmloser, angenehm flotter Bubenfilm – mit Bildern von erstickender Fröhlichkeit.

Niedlich und putzig: Das sind die beiden Wörter, die einem vornehmlich durch den Kopf geistern, während man sich Jean-Pierre Jeunets „Die Karte meiner Träume“ ansieht. Der französische Regisseur, international verehrt für „Die wunderbare Welt der Amélie“ (2001), adaptiert damit einen der heißesten Debütromane der jüngeren Vergangenheit. Knapp unter eine Million US-Dollar soll Autor Reif Larsen vom Verlag „Penguin Press“ für die Rechte an „The Selected Works of T. S. Spivet“, hierzulande erschienen als „Die Karte meiner Träume“, erhalten haben.

Der formal ungewöhnliche, weil mit Dutzenden Landkarten, Skizzen und Grafiken angereicherte Entwicklungsroman ist eine zuckrige, aber doch auch drastische Geschichte, angesiedelt im ländlichen Montana, dort wo die kontinentale Wasserscheide den einen Fluss Richtung Atlantik und den anderen Richtung Pazifik fließen lässt.

Der Vater, ein Cowboy alter Schule

Auch der zehnjährige – im Buch ist er zwölf – Tecumseh Sparrow, kurz: T. S. Spivet (eine Entdeckung: Kyle Catlett) wandelt am schmalen Grat zwischen zwei Lebensläufen: Auf der einen Seite steht seine Mutter, eine exzentrische Hobby-Entomologin, die der Junge nur Dr. Claire nennt und die von Tim Burtons Muse und Ehefrau Helena Bonham Carter passend wirklichkeitsentrückt, aber nicht ganz verrückt, gespielt wird. Wie genau sie den namenlosen Vater von T. S. und seiner älteren Schwester kennengelernt hat, wird jedenfalls im Film nicht erzählt: Der Vater ist ein Cowboy alter Schule, wortkarg und emotionslos.

Perpetuum mobile eingereicht

T. S. ist, so will es der Stoff, ein Amalgam aus diesen beiden Extremwelten, ein neugieriger Junge, gesegnet mit enormer naturwissenschaftlicher Intelligenz und getrieben von grenzenloser Abenteuerlust. Seine Leidenschaft dafür, Dinge mit mathematischer Präzision zu erfassen und in anschauliche Grafiken zu gießen, trägt bald gewaltige Früchte: Eines Tages erhält T. S. einen Anruf vom renommierten Smithsonian-Institut. Er hatte ein Perpetuum mobile eingereicht und dafür soll ihm jetzt, vor der versammelten akademischen Intelligenzija, ein Preis verliehen werden. Nach einigem Überlegen packt T. S. schließlich seinen Koffer und bricht, ohne es seinen Eltern zu sagen, zur langen und strapaziösen Reise an die Ostküste auf.

Jean-Pierre Jeunets Hang zu alltagspoetischen Erzählungen mit leicht surrealer Haltungsnote scheint im ersten Moment eine perfekte Symbiose mit dem Stoff einzugehen. Trotz Voice-over-Narration und überbordender naturromantischer Panoramen in digital aufgewärmten Farbtönen fließt dieses Bubenmärchen angenehm flott dahin. Der audiovisuelle Liebreiz verfliegt allerdings, sobald man bemerkt, wie wenig Jeunet eigentlich zu sagen hat: Denn immer dann, wenn sein Film Stellung beziehen müsste, hagelt es einfach noch mehr Niedliches und Putziges. Die Reise des T. S. ist aber eigentlich angetrieben von einem enormen Schuldgefühl. Vor einem Jahr hat er sich mit seinem Zwillingsbruder im Schuppen verkrochen: Layton hantierte mit einem Gewehr herum, T. S. wollte Aufzeichnungen darüber machen, was genau passiert, wenn ein Schuss fällt. Die Kugel landete dann allerdings im Körper seines Bruders. Die Familie hat über dieses traumatische Erlebnis nie ein Wort verloren. Und die Konstruktion eines Perpetuum mobile war wohl nicht zuletzt der Versuch, etwas zu schaffen, das sich immer weiter dreht, dessen Bewegung nicht plötzlich aufhört wie das Leben seines Bruders . . .

Ein Stück Eskapismus

All diese Überlegungen, all diese Gedanken finden in Jeunets barocker Inszenierung keinen Widerhall: Sie sind zu dunkel, zu nah dran am Leben für dieses Stück Eskapismus. Das ist auch insofern überraschend, da dieser Regisseur durchaus anders kann: Bekannt geworden ist er mit zwei Filmen, die er gemeinsam mit dem Comic-Zeichner Marc Caro inszeniert hat. Sowohl „Delicatessen“ (1991) als auch „Die Stadt der verlorenen Kinder“ (1995) waren düster grundierte Fantasien, angesiedelt in hoffnungslosen Welten, getaucht in eine surreale Atmosphäre und expressionistisch-barock inszeniert.

Die Bilder, die der hoch talentierte Schweizer Kameramann Thomas Hardmeier jetzt für „Die Karte meiner Träume“ einfängt – er lässt den US-Bundesstaat Montana und all seine Felder und Farmen in einem tiefen, warmen, unwirklichen Sonnengelb leuchten – sind ist unwirklich, aber durchzogen von einer erstickenden Fröhlichkeit.

Dieser Film ist, wie schon „Die fabelhafte Welt der Amélie“, zu einem traurigen, einsamen Fluchtpunkt erstarrt: Es geht nicht mehr länger darum, der Wirklichkeit mit den Mitteln der Fantasie zu Leibe zu rücken und so verborgene Zusammenhänge an die Oberfläche zu holen.

So ist Jean-Pierre Jeunets „Die Karte meiner Träume“ ein Film, der die Lüge über die Wahrheit stellt, der Menschen zwei Stunden lang etwas Schönes, Heiteres, Harmloses schenken will, bevor er sie wieder hinausschickt in die triste, traurige Welt. Mag sein, dass dieser Film dann auch exakt diese Funktion erfüllt und wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zu einer Art Glücklich-Macher wird für alle, die im Kino etwas Niedliches und Putziges sehen wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

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