"Schulen werden verwaltet wie im Kommunismus"

Christian Keuschnigg, Karl Aiginger
Christian Keuschnigg, Karl Aiginger(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Die "Presse am Sonntag" bat die beiden einflussreichsten Ökonomen des Landes, über Reformen, Stillstand und Ideen für Österreichs Zukunft zu sprechen.

Im Frühjahr haben Sie noch relativ optimistische Konjunkturprognosen vorgelegt. Diese mussten Sie inzwischen nach unten revidieren. Ist das Ende der Krise schon wieder abgesagt?

Christian Keuschnigg: Es ist nicht mehr so krisenhaft wie es bereits war. Seit dem Frühjahr haben sich jedoch vor allem die negativen Risken realisiert. Insofern sieht jetzt halt wieder alles bescheidener aus. Bis man sich von so einer Krise – wie es die Eurokrise eben war – erholt und die Strukturprobleme bereinigt hat, dauert es länger.

Karl Aiginger: Europa wird auch 2014 den Vorkrisenwert nicht erreichen. Wir haben also ein verlorenes Jahrfünft. Und wenn nicht bald große Reformen begonnen werden, besteht die Gefahr, dass es ein verlorenes Jahrzehnt wird. Wir sind nicht in einer Rezession, aber wir sind nur in einer ganz sanften Aufwärtsbewegung. Zu Anfang des Jahres haben wir gedacht, dass diese stärker werden wird.

Es braucht also Reformen. Die Vorschläge liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Von Ihnen, vom Rechnungshof. Warum passiert nichts?

Keuschnigg: Das ist ein grundsätzliches Problem der politischen Verfassung. Es handelt sich dabei um sehr schwierige Reformprojekte. Bei der Steuerreform geht es ja um komplexe Verteilungsfragen, wo verschiedene Weltanschauungen aufeinanderprallen. Und die Koalitionsregierung macht es auch nicht leichter, eine stringente Strategie zu verfolgen. Wir haben in Österreich das, was wir früher als italienische Verhältnisse bezeichnet haben.


Aiginger: Das Hauptproblem der Reformmüdigkeit ist in meinen Augen, dass es kein Gesamtkonzept und keine Vision gibt, wo Europa in einer stark veränderten Welt in 20 Jahren stehen will. Der Anteil der Wirtschaftsregion Europa wird von derzeit 25 auf 15 Prozent schrumpfen. Hier muss man anders auftreten und mehr auf Qualität setzen. Das gilt auch für Österreich. Dafür braucht es eine konkrete Strategie, von der Reformen abgeleitet werden. Nur so werden diese nicht ausschließlich als Belastung empfunden. Es wird nämlich immer jemanden geben, der bei Reformen verliert und diese daher bekämpft, wenn nicht eine Strategie zeigt, dass alle längerfristig Vorteile haben werden.

Angenommen, Sie müssten sich für einen Reformpunkt entscheiden. Was wäre in Ihren Augen der wichtigste?

Keuschnigg: Es braucht ein Programm für eine Wachstumspolitik, die den globalen Strukturwandel bewältigt.

Aiginger: Es geht darum, ein höheres Wachstum als jetzt zu haben, gleichzeitig aus diesem im Vergleich zu früher niedrigeren Wachstum aber auch mehr Wohlstand herauszuholen. Also etwa weniger Ressourcenverbrauch und mehr sozialen Ausgleich. Schlüssel dafür sind die Bildungspolitik, die Ökologisierung des Wirtschaftssystems und ein Gesundheitssystem, das nicht erst eingreift, wenn die Menschen schon krank sind.

Sie haben gerade den sozialen Ausgleich angesprochen. Dieser erfolgt ja zu einem Gutteil über das Steuersystem. Wenn Sie Finanzminister mit einer absoluten Regierungsmehrheit wären: Wie würde die perfekte Steuerreform aussehen – und wann würde sie kommen?

Aiginger: Eine Steuerreform muss erarbeitet werden, das Geld dafür durch eine Verwaltungsreform erst eingespart werden. Und diese Verwaltungsreform muss groß ausfallen, da nicht nur die Steuern gesenkt, sondern auch mehr Geld für Zukunftsinvestitionen da sein sollte. Entscheidend ist vor allem die Entlastung des Faktors Arbeit.

Keuschnigg: Das ist eine schwierige Frage. Denn eine Steuerreform soll ja nicht nur die Finanzierung des Staates sichern, sie soll auch das Verteilungsziel im Kopf haben und möglichst leistungsfreundlich sein, damit das Wachstum nicht gehemmt wird. Erste Priorität wäre, die schleichenden Erhöhungen – etwa im Rahmen der kalten Progression – zurückzugeben. Gut wäre auch, die vielen Begünstigungen zu streichen, auch jene des 13. und 14. Gehalts. Diese sollten in das normale Gehalt einberechnet und der Tarif dort so abgesenkt werden, dass dies aufkommensneutral ist. In Summe sollte die Steuerquote deutlich sinken. Mit einer Quote von 40 Prozent (derzeit rund 45 Prozent, Anm.) wären wir immer noch über dem globalen Schnitt.

Aiginger: Ich glaube, dass es wichtig ist, den Faktor Arbeit zu entlasten, ohne dort eine Gegenfinanzierung zu machen. Die Streichung der Begünstigung des 13. und 14. Gehalts ist eine optische Maßnahme, ändert aber nichts am Problem. Wenn man wirklich etwas verändern und die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, muss man die Sozialabgaben senken. Nur so erreicht man auch die unteren Einkommensschichten. Das ist aber ein sehr teurer Schritt. Und da diese Maßnahmen nicht sofort durch Einsparungen in der Verwaltung finanziert werden können, braucht es eine Gegenfinanzierung. Daher schlagen wir vor, dass die Berechnung der Grundsteuer in Richtung Marktwerte gehen sollte und es wieder eine Erbschaftssteuer sowie eine Erhöhung der ökologischen Steuern und der Tabaksteuer geben sollte. In Summe sollte die Steuerquote aber natürlich sinken.

Herr Keuschnigg, das IHS hat sich über die allgemeine Vermögensteuer kritisch geäußert. Wie sieht es mit einer höheren Grundsteuer aus, wie Herr Aiginger fordert?

Keuschnigg: In diesem Punkt kann ich zustimmen. Früher gab es effektiv ein höheres Besteuerungsniveau. Dann sind die Einheitswerte gleich geblieben und die Besteuerung so gesunken. Durch eine Anhebung auf die Marktwerte würde man die Willkür der Besteuerung beseitigen. Heute gibt es ja teure Grundstücke, die nicht hoch besteuert sind, weil der historische Einheitswert noch so niedrig ist. Damit hätten wir aber schon eine Vemögensteuer, da Immobilien und Grundstücke beinahe 50 Prozent des gesamten Vermögens ausmachen. Eine allgemeine Vermögensteuer halte ich nicht für zielführend. Wenn man das will, sollte man lieber die Steuer auf Kapitalerträge erhöhen, aber das muss man zusammen mit der Körperschaftsteuer denken, damit die Gesamtbelastung nicht weiter steigt.

Aiginger: Hier würde ich eher bremsen. Denn die Kapitalertragssteuer steht im internationalen Vergleich ziemlich in der Auslage und ist in Österreich auch bereits relativ hoch. Da gibt es meiner Ansicht nach zwei bessere Ansatzpunkte: erstens die Nulltoleranz beim Steuerschwindel. Es gibt einen riesigen knapp legalen oder bereits illegalen Geldtransfer in Steueroasen, der gestoppt werden sollte. Das geht aber nur international. Der zweite Punkt ist die Finanztransaktionssteuer. Es wird bereits wieder so ungehemmt spekuliert wie vor der Finanzkrise. 90 Prozent der Geschäfte des Finanzsektors liegt kein Geschäft mit realen Waren zugrunde. Das ist ungesund. Der Finanzsektor sollte der Realwirtschaft dienen. In Wirklichkeit gehen vom Finanzsektor Gefahren aus – vom internationalen, ich meine nicht Österreichs Banken.

Keuschnigg: Der Steuerwiderstand entsteht halt auch deshalb, weil die Besteuerung vielfach zu hoch ist. Und die Finanztransaktionssteuer braucht als Lenkungssteuer einen klar definierten Lenkungszweck. Ich bin nicht sicher, ob dieser bei der Finanztransaktionssteuer so klar ist. Vor allem in Hinblick darauf, dass bereits jede Menge Maßnahmen auf dem Finanzsektor gesetzt wurden. Wenn wir die Eigenkapitalquoten der Banken anheben, dann wird sich das Spekulieren schon legen. Die Finanztransaktionssteuer wäre eine spezielle Steuer nur für die Finanzwirtschaft. Und für die bräuchte es auch eine spezielle Begründung...

Aiginger: Die Begründung sind die Risken, die permanent vom Finanzsektor in Richtung Realwirtschaft ausgehen. Der Finanzsektor war schon öfter die Ursache für Krisen. Und es sind hier nicht die Banken, sondern Hedgefonds, die es jetzt etwa auch geschafft haben, die argentinische Volkswirtschaft wieder herunterzuziehen.

Keuschnigg: Ich weiß nicht, was das mit der Finanztransaktionssteuer zu tun haben soll. Jetzt muss ich einmal die Hedgefonds verteidigen. Natürlich spekulieren die viel. Aber Spekulation erfüllt in der Wirtschaft auch einen wichtigen Zweck. Wir würden ja keine Innovation haben, wenn niemand auf deren Erfolg spekulieren würde.
Aiginger: Ja, ja. Deswegen sitzen diese Spekulanten auch in Offshore-Finanzplätzen und entziehen sich der normalen Besteuerung und Regulierung, weil sie ja nur ganz normale Geschäfte durchführen.
Keuschnigg: Die Besteuerung muss natürlich international durchgesetzt werden. Da bin ich ganz bei Ihnen.
Aiginger: Ein Hauptgrund dafür, dass Europa seit sieben Jahren nicht wächst, ist die Unsicherheit und Volatilität, die vom Finanzsektor ausgeht. Dass kleine Firmen Probleme haben, Kredite zu erhalten, und dass es – anders als in den USA – keine Bereinigung des Bankensektors gab, sodass der Sektor in Europa immer noch viel unsicherer ist.

Keuschnigg: Das sind aber Probleme, die durch eine Finanztransaktionssteuer nicht gelöst werden. Dafür braucht es eher ein Insolvenzrecht für Banken.

Wir bremsen Sie nur ungern, aber eigentlich sollte es um Ideen für Österreich gehen. Und Österreich kann bei der Finanztransaktionssteuer ja wenig entscheiden.

Keuschnigg: Naja, es kann die Steuer wenigstens nicht auch noch im Alleingang einführen.

Aiginger: Österreich könnte aber natürlich mehr tun, um die Steuer international durchzusetzen.

Wirklich verändern kann Österreich etwas beim Zukunftsthema Bildung – einem weiteren Dauerstreitthema der Politik. Daher die alte Streitfrage an Sie: Sollen Zehn- bis 14-Jährige zusammen unterrichtet werden?

Aiginger: Ja, ich bin für eine einheitliche Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Eine gemeinsame Schule muss aber eine starke interne Differenzierung haben – bis in die einzelnen Fächer hinunter. Wir brauchen dort auch andere Lehrer. Lehrer, die zwischen den Schulen und der Welt draußen hin- und herwechseln. Und wir brauchen eine viel stärkere Schulautonomie, da die Unterschiede, die von den Schulen ausgeglichen werden sollen, in den Regionen sehr konträr sind. Die Schulen werden bei uns derzeit verwaltet wie einst im Kommunismus – alles wird von oben entschieden, nichts vor Ort. Grundsätzlich ist ein Schulsystem, das eine spätere Differenzierung erlaubt, besser. Aber nur, wenn nicht mit dem Einheitsmaßstab drübergefahren wird.

Keuschnigg: Irgendwann muss eine Differenzierung im Schulsystem stattfinden. Ob das nun mit 14, mit zwölf oder mit zehn geschieht, möchte ich nicht entscheiden. Vor allem wird die Grundlage des schulischen Erfolgs vielfach schon viel früher gelegt – im Kindergartenalter. Dort muss bereits versucht werden, etwa Kinder mit sprachlichen Defiziten viel stärker zu fördern, damit sie nachher weniger Probleme haben.
Aiginger: Ein Wort noch zur Schulautonomie: Vor der Autonomie steht, dass es Bildungsziele gibt. Und nach der Autonomie steht, dass die Leistungen gemessen werden und es bei Erfolgen Belohnungen und bei Misserfolgen Konsequenzen gibt. Die Direktoren müssen daher unabhängig bestellt werden und sich ihre Lehrer selbst aussuchen und selbst kündigen können. Entscheidend ist die Transparenz der Leistungen. Heute werden die PISA-Ergebnisse für einzelne Schulen gar nicht publiziert. Ich will, dass diese Ergebnisse an jeder Schultüre hängen, damit eine Konkurrenz zwischen Schulen über Leistung entsteht – und nicht nur über den Preis (Privatschulen, Anm.). So wird Geld sinnvoll verwendet. Heute sind die Turnsäle überheizt, die Fenster schlecht gedichtet und beim Personal heißt es dann, man hat kein Geld.

Lässt sich Ihr Plädoyer für mehr Autonomie auch auf andere Bereiche der Republik umlegen? Mehr Autonomie etwa für Bundesländer, sodass diese das Geld, das sie ausgeben, über Steuern auch einheben müssten?

Keuschnigg: Es ist ein Grundprinzip der Ökonomie, dass der, der Geld ausgibt, auch für die Finanzierung sorgen muss. Die Bürger hätten davon auch etwas, weil sie steuerlich entlastet würden, wenn ihr Bundesland sparsamer wirtschaftet. Ein solcher Steuerwettbewerb würde auf die Ausgaben der Länder disziplinierend wirken. Vor allem, wenn es sich um eine Breitensteuer wie die Einkommenssteuer handelt. Dass es funktioniert, sieht man in der Schweiz – auch ohne, dass die Staatsleistungen dort geringer sind. Anders ist die Situation hierzulande, wenn man sich Kärnten und die Hypo ansieht. Eigentlich müsste Kärnten Steuern erhöhen und die Ausgaben senken, um die selbst verursachten Schulden zu reduzieren.

Aiginger: Steuerwettbewerb zwischen den Ländern und Gemeinden wäre in manchen Bereichen schon heute möglich – etwa bei der Grundsteuer. Die Länder nutzen das aber nicht. Ich glaube, dass sich das ändern wird und die Länder und Gemeinden nicht mehr nur danach trachten können, möglichst viel Geld vom Bund zu erhalten.

Ein anderer Bereich, in dem seit Langem Reformen verlangt werden, sind die Pensionen. Jedes Jahr steigt unsere Lebenserwartung statistisch gesehen um 100 Tage. Wie kann eine Antwort darauf aussehen? Sollen wir jedes Jahr das Pensionsantrittsalter automatisch um diese hundert Tage anheben?

Keuschnigg: Wenn wir im richtigen Lot wären, könnte ein Drittel dieser hundert Tage an zusätzlicher Lebenszeit in mehr Pensionszeit und zwei Drittel in mehr Arbeitszeit fließen. Da wir jedoch noch einen Rückstau aus der Vergangenheit haben, müssten wir eigentlich das Antrittsalter um mehr als diese 100 Tage pro Jahr hinaufschrauben.

Aiginger: Das Wichtigste ist zunächst, das tatsächliche Pensionsantrittsalter an das gesetzliche heranzuführen. Dafür braucht es allerdings eine Reihe von gleichzeitigen Maßnahmen: So müssen mehr Arbeitsplätze für Ältere geschaffen werden. Das erreicht man etwa, indem die Einkommen im Alter nicht mehr so stark ansteigen, weil Ältere sonst nie einen Job finden. Entscheidend ist auch lebenslanges Lernen und das Einplanen eines Tätigkeitswechsels während eines Arbeitslebens. In den Firmen sollte schon frühzeitig geplant werden, welchen Job der Arbeitnehmer machen kann, wenn er älter ist. Eine wichtige Idee ist hier die Teilzeitpension. Dann könnte ein über 65-Jähriger weiter in Teilzeit arbeiten, bleibt so aktiv und bekommt dafür einen Teil seiner Pension und einen Teil seines Gehalts.

Keuschnigg: Es gibt genug Länder mit höherem Pensionsantrittsalter, die kein großes Problem mit Altersarbeitslosigkeit haben. Derzeit haben weder Betriebe noch Mitarbeiter einen Anreiz, in die Qualifikation von über 50-Jährigen zu investieren. Wenn der Horizont für das weitere Arbeitsleben ausgedehnt wird, dann sieht das ganz anders aus.

Steckbrief

Karl Aiginger
ist seit März 2005 Leiter des Wifo. Der 1948 geborene Wiener arbeitet seit 1970 am größten heimischen Wirtschaftsforschungsinstitut. 1984 habilitierte er sich mit einer Arbeit über „Production Theory under Uncertainty“. Seit 1992 unterrichtet er an der Uni Linz, seit 2006 auch an der Wirtschaftsuniversität Wien. Daneben war er auch als Gastprofessor unter anderem an den US-Universitäten Stanford, Massachusetts Institute of Technology oder der University of California tätig.

Steckbrief

Christian Keuschnigg leitet seit Juni 2012 das Institut für höhere Studien (IHS), wo er bereits zwischen 1992 und 1997 tätig war. Der 1959 in St. Johann in Tirol Geborene erhielt seine erste Professur im Jahr 1997 an der Universität Saarland. Seit 2001 ist er an der Schweizer Universität St. Gallen tätig, wo er als Dekan die Fakultät für Volkswirtschaft auch leitete. Daneben ist er noch in mehreren ökonomischen Netzwerken wie dem deutschen Finanzwissenschaftlichen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik engagiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.