»Die Erinnerung ist ein Produkt der Zwischenzeit«

 Stefan Karner (Archivbild)
Stefan Karner (Archivbild)(c) Clemens Fabry
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Der Historiker Stefan Karner, Gründer und Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung in Graz, über das Erinnern als Zeitzeuge an den Zweiten Weltkrieg und was gern kollektiv vergessen wird.

Wie gehen Zeitzeugen mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg um? Gibt es verschiedene Zugänge?

Stefan Karner: Selbstverständlich hat nahezu jeder und jede seinen persönlichen Zugang. Ob als damaliger HJ-Junge, als BDM-Mädel, als Rüstungsarbeiter in der Waffenschmiede Steyr, als politischer Häftling in Dachau, als jüdischer Emigrant in London, als Jude im KZ oder als Wehrmachtssoldat an vorderster Front in Polen. Die einen wünschten sich einen Sieg, die anderen hofften auf ein baldiges Ende des „Tausendjährigen Reiches“. Alle aber wollten nur eines: Überleben.

Gibt es Gemeinsamkeiten bei den Erinnerungen an den Kriegsausbruch?

Praktisch alle erinnern sich an die Hitler-Rede: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Und: Dass es keinen Hurra-Patriotismus wie 1914 mehr gegeben hat. Zu nahe war noch die Kriegserfahrung des Ersten Weltkrieges. Ausgeblendet wird oft, dass der eine oder andere zum Krieg nicht zu spät kommen wollte, dieses Erleben ebenfalls haben wollte. Aber das waren Einzelne.

Was wird noch häufig ausgeblendet?

Ausgeblendet wird, besonders bei den Männern, die vormilitärische Ausbildung im Wehrertüchtigungslager oder im Reichsarbeitsdienst. Das wird meistens nur gestreift. Oder auch der entsprechende Unterricht in der Schule. Erst wenn man ihnen die Hefte von damals zeigt, mit den Wochensprüchen, mit den entsprechenden halb militärischen Einschüben im Sachunterricht, dem Entfall des Religionsunterrichts, dann kommt die Erinnerung zurück.

Verändert sich Erinnerung durch die Zeit und das Wiederholen der Geschichte?

Ja, klar. Die Erinnerung ist auch ein Produkt der Zwischenzeit. Es ist sehr schwer zu erfahren: War der Zeitzeuge wirklich dabei, oder hat er es nur im Radio so oft gehört, dass er selbst schon glaubt, dabei gewesen zu sein. Sie glauben nicht, wie viele im letzten Flugzeug saßen, das aus Stalingrad herausgeflogen ist. Das müssen viele Jumbos gewesen sein. Aber vergessen wir dabei nicht: Jene, die damals Soldaten waren, sind heute bereits mindestens 86 Jahre alt.

Warum wissen wir manche Details haargenau, anderes wird wiederum ausgelassen?

Das liegt an der subjektiven Wahrnehmung, aber auch dem anderen Zugang, den wir heute haben.

Legt man sich eine spezielle Erinnerungsversion zu, die man dann beibehält?

Das kommt öfter vor. Vielfach knickt man dann aber irgendeinmal ein. Jemand erzählte der Familie immerfort von der Bombardierung Dresdens mit den tausenden Toten im Februar 1945. Bis seine Kinder später draufkamen, dass er selbst im Kommando zum Leichenwegräumen arbeiten musste und von seinem eigenen Grauen nicht erzählen konnte. Ähnliches gilt für Erschießungskommandos usw. Wir können uns heute nicht vorstellen, was der Krieg für 18-, 19-, 20-Jährige bedeutet hat. Wie schwer es nachher war, wieder ins normale Leben zurückzukommen. Da gab es keine psychologische Betreuung. Die Menschen mussten selbst mit dem Grauen, der Vergangenheit fertigwerden. Viele hatten ihre Jugend einem verbrecherischen Regime geopfert, oft ohne es zu Beginn zu merken.

Gibt es internationale Unterschiede? Inwieweit beeinflusst der kollektive Umgang mit der Geschichte die persönliche Erinnerung?

Das ist sicher entscheidend. Ab einem gewissen Alter kommt dennoch der wahre Kern heraus. Frauen erzählen ihre Vergewaltigung durch Besatzer, ob bei uns oder in Russland, meistens als Schicksal der Nachbarin oder Freundin. Oft kam noch die Scham dazu.

Wie sehen Zeitzeugen die Rolle der Österreicher in der Wehrmacht? Hat sich das gewandelt?

Oh, doch. Da gibt es einen großen Unterschied gegenüber der Zeit vor 20, 30 Jahren. Die noch reden können, tun es differenzierter. Man merkt die politische Bildung, die Dokumentationen in den Zeitungen, im Radio und im TV.

Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers. Was ist dran an diesem Spruch?

Für mich, wenig. Wir versuchen, die Zeitzeugen als mündliche Quellen zu behandeln, ernst zu nehmen. Oft können sie uns Dinge sagen, Fragen aufwerfen, auf die man allein durch das Studium der Akten nicht kommt.

Steckbrief

Stefan Karner
(geb. 1952 in Kärnten) ist Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Uni Graz sowie Leiter des L. Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Kontakt für Zeitzeugen: Universitätsstr. 15, 8010 Graz, ✆ 0316/ 380-3521 oder wisog@uni-graz.at

Gasser

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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