O, du verdorbenes Frankreich!

Portraet Sade als junger Mann
Portraet Sade als junger MannWikipedia/Unbekannt
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Flaubert fand es noch schwierig, sich die verbotenen Texte De Sades zu besorgen. Erst seit den Sechzigerjahren fiel die Sade-Zensur in den meisten Ländern Europas.

Die Verleugnung begann in der eigenen Familie: De Sades Angehörige und Nachkommen haben fast eineinhalb Jahrhunderte lang die Fiktion aufrechterhalten, dass die Romane „Justine“ und „Juliette“ gar nicht von de Sade, sondern von einem unbekannten Verfasser stammten. Die Öffentlichkeit wusste es trotzdem, und die Verbreitung dieser Romane florierte nach de Sades Tod, liest man in Volker Reinhardts Sade-Biografie. Schon die zeitgenössischen Ausgaben verlockten demnach auch mit pornografischen Kupferstichen. Solche Illustrationen waren es auch, die in den 1930er-Jahren den Künstler Max Ernst zu seinem Collage-Roman „Une semaine de bonté“ („„Eine Woche der Güte“) inspirierten. Darin wandelte er Motive der Schreckensromane ins Traum- und Albtraumhafte ab.
Typische Verstecke für diese verfemten Bücher befanden sich einem Zeitgenossen zufolge in privaten Bibliotheken des 19. Jahrhunderts vor allem hinter besonders „heiligen“ Werken, etwa Texten von Blaise Pascal oder vom heiligen Chrysostomus . . . Dass es aber nicht immer leicht war, sich die Texte zu besorgen, zeigt das Beispiel Gustave Flauberts, der einem Freund zufolge regelrecht besessen von den Werken des Marquis gewesen sein soll, aber Schwierigkeiten hatte, sich die gewünschten Texte zu beschaffen.

Auch zu wissenschaftlichen Zwecken wurden Texte des Marquis publiziert: So gab der deutsche Sexualwissenschaftler Iwan Bloch 1904 unter Pseudonym das lange verschollene Fragment der „120 Tage von Sodom“ heraus. Bloch sah darin eine realistische Wiedergabe von Ereignissen im damaligen Adeligen-Milieu. Er wollte mit dem Text nicht zuletzt die abgrundtiefe Verdorbenheit der französischen Nation demonstrieren.

Sartre als Sade-Helfer.
Bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts blieben De Sades Texte im Großteil Europas verboten. Noch in den 1950er-Jahren musste sich ein französischer Verlag vor Gericht verantworten, weil er Sade-Werke veröffentlichte. Beim Prozess engagierten sich berühmte Literaten für ihn: der Surrealist André Breton (einer der glühendsten Sade-Verehrer überhaupt), aber auch Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Der Verlag wurde dennoch verurteilt. In den 1960er-Jahren wurden Sades Texte in Deutschland auf jugendgefährdende Wirkung überprüft und, siehe da, geduldet – wie seit Ende der Sechzigerjahre fast überall in Europa. In den Neunzigern schließlich das Undenkbare: Mit einer Auswahlausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade kam de Sade im Olymp der französischen Literatur an.               (sim)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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