Venedig: Die Zeit der Zyniker ist vorbei

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Die Filmfestspiele von Venedig bestachen heuer durch leise Töne. Die letzten Tage am Lido zeigten, dass das Thema »A Boy And His Dog« noch nicht verbraucht ist.

„Feza Fuze“ steht auf den Raketen zu lesen, kurz bevor sie abheben und ihre Funkenladung hoch oben im Himmel entladen. Magische Momente wie diese kommen nicht häufig vor im Leben des kleinen Aslan. Seine Familie lebt in einem anatolischen Dorf, einem verarmten Flecken, in dem es keine Häuser gibt, nur Hütten und Ställe. Dort drin steht das Vieh, stehen die Rösser und die Schafe, die für die Menschen das tägliche Überleben bedeuten. Zur Unterhaltung lassen die Männer in genau choreografierten Ritualen kalbgroße Hunde, die Sivas-Kangal, gegeneinander kämpfen: ein Knurren, ein Jaulen. Irgendwann färbt sich das Fell um den Hals blutrot.

Ungeschönte Hundekämpfe. Aslan holt einen dieser Hunde zu sich und pflegt ihn gesund: Das Tier wird für ihn zum Beschützer vor unguten Gleichaltrigen, zur Trophäe, mit der er versucht, die hübsche Ayse zu beeindrucken, aber auch zum Freund. A boy and his dog – diese Konstellation hat das Kino schon hundertfach durchprobiert, und das für gewöhnlich erfolgreich. Am bekanntesten ist wohl das unzertrennliche Gespann vom kleinen Timmy und seinem Collie Lassie: Bilder davon sieht Aslan sich in seinem kleinen Plastik-Diagerät an. Aber der Bub muss kämpfen um so eine Idylle: Denn die Männer des Dorfes sehen in seinem Hund vor allem eine Geldanlage.

„Sivas“ ist das Spielfilmdebüt des jungen Türken Kaan Müjdeci: Dass Festivaldirektor Alberto Barbera das Drama in den Wettbewerb der 71. Filmfestspiele von Venedig eingeladen hat, ist mutig. Die ungeschönten Bilder von den illegalen Hundekämpfen führten schon bei der Pressevorführung zu Wutausbrüchen von tierfreundlichen Journalisten. Eigentlich muss einem aber etwas anderes auffallen: Dass Müjdecis Film ohne Sozialtristesse und Opferromantik auskommt, dass die Geschichte vom Buben, der mit der (sehr) männlichen Tradition von Hundekämpfen bricht, nicht zur überladenen Allegorie verkommt, ist überraschend und erfrischend.

Und dennoch ist man dann froh, wieder durchschnaufen zu können, zum Beispiel im unerhört spaßigen neuen Film des koreanischen Sympathieträgers Hong Sang-soo, „Hill of Freedom“. So heißt das kleine Café, in dem der junge Japaner Mori landet. Eigentlich ist er nach Südkorea gekommen, um jene Frau wieder zu treffen, in die er sich vor Jahren verliebt hat. Aber dann kommt alles anders: Zwischen Torten und Kaffee wächst ihm die quirlige Kellnerin immer mehr ans Herz. Der trinkfreudige Regisseur – auch seine Figuren sind häufiger betrunken als nüchtern – hat merklich Spaß an seiner romantischen Miniatur, in der er froh und munter mit Gepflogenheiten des Erzählfilms jongliert. Die Zeitebenen zerwürfelt er, fängt mit dem Anfang an, das Ende kommt irgendwo mittendrin. Will heißen: Solange man starke Charaktere hat, muss man nicht auf die Uhr schauen, und wer eine klassische Geschichte erzählt, kann sich zwischen deren Eckpfeilern – alter Liebe, neuer Liebe und so weiter – austoben.

Radikal modernes Peking. Überhaupt ist es in Venedig wieder das asiatische Kino, das weit voraus zu sein scheint, sowohl in seinen klassischen als auch den exzentrischen Beiträgen. Wang Xiaoshuai etwa wertete den für gewöhnlich drögen Festival-Endspurt mit seinem fein kalibrierten Psychodrama „Red Amnesia“ deutlich auf. Die alte Deng scheitert darin an den Vorgaben eines radikal modernen Peking. Wie besessen kocht sie für ihre beiden erwachsenen Söhne Fleischbällchen, hockt mit Kameradinnen, alle mit kommunistischer Armbinde, vor ihrem heruntergekommenen Wohnhaus und sehnt sich nach einer Zeit, in der ihr alles einfacher schien. Aber dann schleicht etwas herum in ihrem Leben, oder besser gesagt, jemand: Ein Mann verfolgt die Alte durch die Großstadt, Ziegelsteine fliegen durch ihre Fenster, und ein anonymer Anrufer belästigt sie am Telefon.

Man weiß schon: Die Vergangenheit hat Deng eingeholt, und Schicht für Schicht legt der Regisseur die Tragödie frei. Beeindruckend, wie Wang Xiaoshuai die Balance hält zwischen Sozialrealismus und fantastischeren Tonlagen: In Momenten erinnert sein „Red Amnesia“ sogar an die labyrinthisch angelegten Verunsicherungen eines David Lynch. Sehr verschleiert, verrätselt und in vollgeräumten Bildern von vollgeräumten Wohnungen und einer vollgeräumten Metropole entwickelt der Film eine Psychografie des modernen China, durch das immer noch die Geister der Vergangenheit schleichen.

Wenige Starfilme.
Venedig 2014 war vor allem ein Festival der leisen Töne. Alberto Barbera lässt zwar immer noch Grandezza, Weitsicht und Verve von Vorgänger Marco Mueller – der schon einmal Zombiefilme und Avantgarde-Arbeiten in den Wettbewerb lud – vermissen, seine diesjährige Selektion lässt sich allerdings durchaus als Bekenntnis zum (über-)ambitionierten Kleinfilm deuten – und ist damit eine deutliche Weiterentwicklung vom filmischen Ramsch- und Gemischtwarenladen der letzten beiden Jahre. Lärmendes und Protzendes waren eher die Ausnahme, und die wenigen Starfilme, die zu sehen waren, wie die Shakespeare-Adaption „Cymbeline“ mit Milla Jovovich, Ed Harris und Ethan Hawke, konnten kaum überzeugen.

Auch die Atmosphäre in den Festivalkinos selbst hat sich verändert: Es sind weniger Schaulustige hier, weniger Gazettenschreiber, überhaupt weniger Leute: Die, die kommen, sind dafür ernsthaft interessiert, heben zum Szenenapplaus an und wirken enthusiastisch. Die Zeit der Zyniker scheint endgültig vorbei, wenn selbst ein Sakrileg wie Abel Ferraras „Pasolini“ ohne Buhrufe und Pfeifkonzerte der stolzen italienischen Filmkritiker über die Bühne geht. „Zu skandalisieren ist ein Recht. Skandalisiert zu werden ein Vergnügen“, fasst Willem Dafoe mit schwarzer Sonnenbrille darin eine Essenz des berühmten, berüchtigten, genialen Poeten und Filmemachers aus dem Friaul zusammen. Ferrara ist kein Mann der Konvention: Erst vor wenigen Monaten sorgte er mit seinem aus dem Sexskandal des Dominique Strauss-Kahn abgeleiteten, herausgekratzten Erotikdrama „Welcome to New York“ weltweit für Aufsehen.

Verehrter Pasolini. Jetzt verehrt er Pier Paolo Pasolini mit unendlicher Hingabe und unorthodoxem Gebaren mit einem Film, der ihn am Ende seines Lebens zeigt. 1975 lebt „Pieruti“ mit „Mamma“ in einer schönen Wohnung in Rom, in Herz und Hirn trägt der überzeugte, umstrittene Kommunist immer noch die Gesichter und Geschichten des Subproletariats, jenes verelendeten Milieus, dem er selbst entstammt. Ferraras „Pasolini“ ist eine Collage mit zumindest semidokumentarischem Gebaren: In einer langen Interviewsequenz lässt der Regisseur einen Journalisten tief in sein verzweifeltes Inneres blicken – „wir sind alle in Gefahr!“ -, in einer Rückblende geht er vor mehreren jungen Männern auf die Knie, blickt auf und säuselt „Amore“, bevor er sie oral befriedigt.

Willem Dafoe ist gut besetzt als Pasolini, verliert selbst dann nicht die Haltung, wenn Ferrara ihn zu kroatischer Volksmusik tanzen lässt. Nur, dass er Englisch spricht, irritiert. Am Ende des Films sieht man, wie vier Männer Pasolini auf dem Strand schlagen, treten und mit seinem eigenen Auto überfahren. Vor wenigen Jahren kamen Zweifel über den Tathergang auf, seitdem gilt der Mord an dem legendären Italiener zumindest inoffiziell als ungeklärt.

Veganer Zombie. Aber auch abseits des Wettbewerbs hatte die zweite Filmfestspiel-Hälfte einiges zu bieten. „Gremlins“-Regisseur Joe Dante nimmt in seiner launigen, altmodischen Horrorkomödie „Burying the Ex“ den Liebesschwur „bis ans Ende aller Tage“ sehr wörtlich. Denn plötzlich steht die von einem Bus überfahrene Exfreundin von Max (Anton Yelchin) wieder vor seiner Tür – und das, obwohl sich der Horrorenthusiast von der veganen und insgesamt sehr „grün“ lebenden Evelyn (Ashley Greene, „Twilight“) eigentlich trennen wollte.

Dante hat merklich Spaß an diesem Stoff und bettet ihn in einen so sympathischen wie dichten Referenzteppich ein. So gut wie jeder Fernseher zeigt alte Horrorfilme, auf dem Hollywood-Friedhof wird „Die Nacht der lebenden Toten“ gespielt, und nach Ansicht von Herschell Gordon Lewis‘ kultigem Schundklassiker „The Gore Gore Girls“ verwandelt sich die sexgeile Untote in einen waschechten Zombie mit unstillbarer Lust auf Frischhirn.

„Burying the Ex“ ist nicht nur einer der lustigsten, sondern auch einer der besten Filme heuer. Will Venedig auch in Zukunft strahlen und nicht im Meer der Arthouse-Beliebigkeit und Kunstgewerblichkeit ersaufen, dann sollte Barbera mehr von solchen frechen (Genre-)Filmen zusammentragen – und sie nach Möglichkeit in den Wettbewerb einladen. „Burying the Ex“ eben, das Alte zu Grabe tragen und dann auf zu neuen Ufern. Avanti!

Fakten

Chef der Jury ist heuer der französische Filmkomponist Alexandre Desplat. Neben ihm entscheiden unter anderem Hollywood-Schauspieler Tim Roth und die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner über die Preisträger. Ein souveräner Wettbewerb mit wenigen Tiefschlägen bedeutet auch, dass es kaum Favoriten für die Festivalpreise gibt.
Joshua Oppenheimers lange nachwirkende Dokumentation „The Look of Silence“ liegt bei den Kritikern hoch im Kurs.
Der Sohn eines während der Massentötungen an „Systemfeinden“ Mitte der Sechzigerjahre in Indonesien Ermordeten konfrontiert darin die Täter.
Mario Martones ungewöhnliches Poeten-Biopic „Il giovane favoloso“ über Giacomo Leopardi gilt als preisverdächtig, genau wie der diesjährige Festivalstarter „Birdman“. Alba Rohrwachers Darstellung einer pathologisch protektiven Mutter in Saverio Costanzos Psychodrama „Hungry Hearts“ könnte ihr den Schauspielerinnenpreis einbringen.

Venedig in Zahlen

20 Beiträge liefen insgesamt im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Zwölf Millionen Euro kostete das Festival, davon kamen 7,5 Millionen vom italienischen Staat.

7000 Besucher waren heuer akkreditiert, darunter 2300 Journalisten. Beim Verkauf der Kinokarten hat man laut Festivaldirektor Alberto Barbera das Niveau des Vorjahres erreicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2014)

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