Nahost: Vergessen in den Ruinen von Gaza

Palestinians stand atop a damaged building on a beach during sunset in the northern Gaza Strip
Palestinians stand atop a damaged building on a beach during sunset in the northern Gaza Strip(c) REUTERS (MOHAMMED SALEM)
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Auch Wochen nach der israelischen Militäraktion im Gazastreifen müssen zigtausende Menschen in Notunterkünften leben. Ihre Häuser sind zerstört und Zement ist Mangelware. Jetzt wächst die Sorge wegen des nahenden Winters.

Gaza. Seit Kriegsende kommt Amal Abu Nahel täglich zu ihrem Haus. Die 45-Jährige ist gleich am ersten Tag der israelischen Bodenoffensive im Juli ausgebombt worden. Die Trümmer des Gebäudes, das einst rund einhundert Menschen beherbergte, können nur noch abgerissen werden. Trotzdem fordert die Stadtverwaltung von Beit Lachijah, einer Kleinstadt ganz im Norden des Gazastreifens, die Leute dazu auf, wieder zurückzukehren. „Das ist absurd“, schimpft Abu Nahel. Die Wände an zwei Fronten sind komplett weggebrochen, es gibt keine Türen, keine Fenster, nur Schutt. „Wir kommen her, um gegen die Stadtverwaltung zu protestieren, und weil wir uns registrieren lassen wollen für den Wiederaufbau“, sagt Abu Nahel ohne viel Hoffnung, denn: „Bis heute hat noch keiner mit uns gesprochen.“

Auch Wochen nach dem Ende der 50-tägigen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen, die zigtausende Menschen obdachlos machten, ist Hilfe noch längst nicht in Sicht. Arabische und westliche Diplomaten beraten über die Finanzierung der dringenden Reparaturen, doch ohne politische Einigung zwischen Palästinensern, Israel und Ägypten, bleiben die Grenzen für die Einfuhr von Baumaterial geschlossen.

Jetzt beginnt das neue Schuljahr. Doch die meisten der Flüchtlinge übernachten in den Schulen der UNRWA (UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge), der Kirche und in öffentlichen Lehranstalten. „Sie wollen uns wegschicken“, sagt Milabed Mussa, die wie ihre Nachbarin Abu Nahel in dem Straßenblock von sechs Häusern von Beit Lachijah lebte, die komplett oder teilweise zerstört wurden. 20 Wohnungen gab es in jedem der Gebäude, je mit drei Zimmern, die oft für zehn und mehr Menschen reichen mussten. „Wir gehen nicht weg aus der Schule“, meint die 40-Jährige, die nur mit dem, was sie am Körper trug, fliehen musste. Alles sei zerstört, viele Leute hätten die Eigentumswohnungen, von denen jetzt kaum etwas übrig ist, noch gar nicht abbezahlt.

Angriff mit Tränengas

Die Leute waren zu Hause, als der Beschuss durch Panzer gegen 22.00 Uhr anfing, berichtet Mussa. Von einer Vorwarnung will sie nichts gewusst haben, obschon ein anderer Nachbarn meint, dass die Luftwaffe noch kurz vor dem Angriff Flugblätter abwarf, um die Bombardierungen anzukündigen. Alle Leute aus dem Haus versammelten sich dann im untersten Stock, dann seien die ersten Tränengasgranaten gekommen, die die Menschen zur Flucht zwangen. Israel sei es „nur um die Zerstörung“ gegangen, sagt Said Ahmad Shabad, der auch hier wohnte. Er versteht es nicht, denn das Viertel sei bekannt als Hochburg der Fatah, der palästinensischen Konkurrenzpartei zur Hamas. Er selbst steht noch immer im Dienst des Gesundheitsministeriums der von der Fatah geführten Palästinensischen Autonomiebehörde, obwohl er seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 nicht mehr arbeitet.

„Beim Krieg ging es um Geld“

In der Ruine, die einst seine Küche war, liegen noch Kinderschuhe und eine zerrissene Decke. Zwei seiner Söhne standen kurz vor ihrer Hochzeit, berichtet der 60-jährige Ingenieur. „Sie sollten hier einziehen, jetzt haben wir nichts mehr.“ Die Hamas habe auch ihm ein Überbrückungsgeld von 2000 Dollar gezahlt, trotzdem ist er nicht gut auf die Islamisten zu sprechen. „Bei diesem Krieg ging es nicht um den Widerstand“, schimpft ein anderer Nachbar, der keinesfalls namentlich genannt werden will. Hier sei es „nur um Geld“ gegangen.

Ein von Beginn des Raketenbeschusses erklärtes Ziel der Hamas war die Auszahlung der seit Monaten ausstehenden Gehälter für die Bediensteten des Verwaltungs- und Sicherheitsapparates in Gaza. „Ich hoffe auf Frieden und eine Öffnung der Grenzen“, sagt Shabad, für den Import von Baumaterial genauso, wie für den Personenverkehr. Als der frühere PLO-Chef Jassir Arafat noch das Zepter in der Hand hielt, „konnten über 100.000 Männer aus Gaza in Israel arbeiten“. Am Ende werde es auch im Gazastreifen einen See- und einen Flughafen geben, doch bis dahin werde noch viel Zeit vergehen.

Die Hindernisse sind riesig. Die Palästinenser sind sich noch nicht einmal untereinander einig darüber, wie eine Lösung aussehen soll. Beide Fraktionen wehren sich dagegen, von ihrer Macht abzulassen. Aus Sorge vor einem geplanten Putsch im Westjordanland jagen Fatah-Polizisten erneut Hamas-Mitglieder. Umgekehrt halten im Gazastreifen die Hamas-Kämpfer ihre Gegner mit harter Hand in Schach. Ohne Einigung können jedoch die Fatah-nahen Grenzer nicht wieder ihre Posten übernehmen. Israel und Ägypten machen es zur Bedingung, dass die „Force 17“-Truppe von Präsident Mahmud Abbas die Kontrolle der Grenzübergänge übernimmt, bevor die Blockade erleichtert werden soll. „Es wird eine Schlichtung geben“, zeigt sich Shabad überzeugt. „Das Volk wird die Fraktionen dazu zwingen.“

Zement ist derzeit die wertvollste Ware. Steine der Ruinen könnten zertrümmert und neu zu Betonblöcken verarbeitet werden, doch ohne Zement geht auch das nicht. Der Chef der Stromverteilungsgesellschaft Fathi a-Sheikh Khalil fürchtet den nahenden Winter. Allein an der Infrastruktur des Stromnetzes in Gaza hat der Krieg einen Schaden von 45 Millionen US-Dollar angerichtet. Transformatoren und Kabel wurden zerstört. Dazu kommt der Schaden am einzigen Elektrizitätswerk im Gazastreifen, das bis zum Krieg rund 40 Prozent des Bedarfs deckte.

Angst vor Überschwemmung

Schon vor dem Krieg hatten die Palästinenser nur zwölf Stunden Strom am Tag, heute sind es nur noch sechs. Im Winter verdoppele sich erfahrungsgemäß der Verbrauch, „wenn wir Glück haben, bleiben den Leuten dann noch drei Stunden pro Tag“ mit Strom, vorausgesetzt, die derzeit noch halbwegs intakten Leitungen halten Kälte und Nässe aus. Khalil rechnet mit einer humanitären Katastrophe, denn nur mit regelmäßiger Stromversorgung können die Menschen im Gazastreifen Frischwasser aus den Brunnen pumpen. Genauso ist für die Entsorgung von Abwasser Strom unabdingbar. „In Gaza waren schon im vergangenen Jahr ganze Straßenzüge mit Abwasser überschwemmt“, sagt Khalil. „In diesem Winter kann es nur noch schlimmer werden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2014)

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