Philosophicum Lech: Muttermord, Internet und unfreie Geister

(c) Uni Bremen
  • Drucken

Kann man überhaupt von Schuld sprechen? Das alte Thema der Willensfreiheit geisterte wieder einmal durch die alpine Denkwerkstatt. Bei der man auch einiges über NS-Deutschland, den Kongo und das Hirn lernte.

Von Vatermord war, wie berichtet, viel die Rede gewesen zu Beginn des Philosophicums Lech zum Thema „Schuld und Söhne“, von Ödipus und den Brüdern Karamasoff, vom archaischen Mord, aus dem Freud die Kultur ableitete. Am letzten Tag, beim Vortrag des Gerichtspsychiaters Henning Saß, hörte man dann von Muttermord. Saß schilderte einen Mann im mittleren Alter: einen „typus melancholicus“, ordentlich bis zur Pedanterie, brav, konfliktscheu, fromm, immer im familiären Umfeld, auch bei einem beruflichen Projekt, bei dem es zu einem Streit kam, der ihn völlig aus der Bahn warf. Er hörte das Glockenläuten als Zeichen, dann hörte er Stimmen, reagierte mit lautem Beten, endlich befahl ihm die Stimme Gottes: „Töte deine Mutter, denn sie ist der Teufel!“

Nach der Tat konnte man den hochgradig Erregten nur mit einer Spritze beruhigen, als er erwachte, war die Psychose verschwunden, er war schuldeinsichtig und reuig. Dennoch wurde ihm Unzurechenbarkeit zuerkannt, er bestand freilich darauf, den Aufenthalt in der Psychiatrie als Strafe zu sehen.

Eine wüste Geschichte, bei der einem die Beinahe-Opferung Isaaks einfiel: Wie würde ein heutiges Gericht die Aussage eines Mannes werten, Gottes Stimme habe ihm befohlen, seinen Sohn zu töten? Verblüffend auch, wie unmittelbar einsichtig es ist, dass im von Saß geschilderten Fall der Mann schuldunfähig war. Weil er offenbar unfrei war, zumindest bei der Tat. „Unfreie Geister“ nannte man einst Geisteskranke, „psychische Krankheit schränkt die Freiheit ein“, sagte Saß.

Aber wie frei sind wir überhaupt? Brillant und scharf sezierte Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph an der Uni Hamburg, das alte Problem der Willensfreiheit. „Kann man entscheiden zu wollen, was man will?“, fragte er. Im Grunde lief seine Argumentation auf die lakonische Formel Schopenhauers hinaus: Wir können – hoffentlich – tun, was wir wollen, aber wir können nicht wollen, was wir wollen. In einem kausalen System ist kein Platz für Freiheit, und, wie Merkel sagte: „Alles Determinierte lässt keine Alternative und alles Indeterminierte keine Kontrolle zu.“ In Wahrheit strafen wir einen Täter dafür, wie er ist. „Wenn eine Person nicht anders kann, als sich an einem Völkermord zu beteiligen, weil ihr Gehirn sie darauf festlegt, dies dem Kampf an der Front oder der Peinlichkeit vor den sogenannten Kameraden vorzuziehen, dann ist es genau dies, was die Substanz des moralischen Vorwurfs ausmacht“, sagte Michael Schefczyk, Philosoph in Lüneburg, am Ende seines Referats über die Schuld der Deutschen.

Wie legt unser Gehirn uns fest, sei's zum Guten oder zum Bösen? Neurologe Gerhard Roth zeigte das Frontalhirn, wo das Abwägen passiert, das wir als Walten des freien Willens wahrnehmen. Und er zeigte die Amygdala, das Zentrum, in dem die Angst entsteht. In ihm kann man zwei Typen von Aggressiven unterscheiden: den reaktiv-impulsiven Gewalttäter und den Psychopathen. Dieser weiß, was er tut, ihm fehlt aber die Empathie, die Amygdala zeigt verminderte Reaktion auf ängstliche Gesichter.

Ist Kriminalität eine Krankheit?

Der reaktiv-impulsive Täter reagiert sogar heftiger, aber er kann ängstliche von aggressiven Gesichtern nicht unterscheiden. Bei beiden ist – neben den von Roth auf 20 Prozent geschätzten genetischen Einflüssen – oft früher Stress – sogar schon im Mutterleib – schuld. So hält Roth möglichst frühe Intervention für geboten, „Man muss helfen!“ war sein Schlusswort. Dem noch ein knapper Dialog folgte: „Kriminalität ist keine Krankheit“, sagte Saß; „Für mich schon“, erwiderte Roth.

Ähnlich kontroversiell verlief die Diskussion zu einem anderen Thema: Wie halten wir es mit der Verantwortung für Unrecht auf der Welt? Und was können wir gegen dieses tun? Wir seien „wahnsinnig erfolgreich“ in der Veränderung unseres Bewusstseins, aber genauso darin, keine Konsequenzen zu ziehen, meinte der Soziologe Harald Welzer: „Jede Idee einer Änderung stört das Geschäftsmodell.“ Er sieht in der schönen neuen Datenwelt die Keime eines neuen Totalitarismus, hält gar die „Abschaffung“ des Internets für überlegenswert, sei aber nicht für ein Verbot, wie er auf Anfrage versicherte. Einen „naiven Wunsch nach Freiheit“ hörte die russische Philosophin Ekaterina Poljakova aus Welzers „Anti-Techno-Pathos“; anderen klangen die Vergleiche des angeblich drohenden Totalitarismus mit dem NS-Terror nach Verharmlosung der Shoa.

Für „faires Aufteilen moralischer Verantwortung“ plädierte Ethikerin Barbara Bleisch, die die meisten Katastrophen als von Menschen verursacht sieht. Als Beispiel nannte sie den Kongo, wo trotz der reichen Rohstoffe, die weltweit z.B. für Handys wichtig sind, 70 Prozent in extremer Armut leben, weil kaum etwas von den Gewinnen der Firmen, denen korrupte Politiker billige Schürfrechte verschaffen, an die Einwohner geht. „Wir sind nicht nur edle Spender, sondern auch Profiteure von Unrecht – und haben entsprechende Restitutionspflichten“, sagte Bleisch.

Einigen konnten sich die meisten darauf, dass Schwelgen in Schuldgefühlen lähmen kann. Vielleicht darf man den von Ludger Heidbrink zitierten Epiktet-Spruch so verstehen: „Der Dumme sucht die Schuld bei anderen, der Vernünftige bei sich selbst, der Weise aber sucht überhaupt keine Schuld mehr.“ In diesem Sinn war das schöne Lech auch in diesem September wieder beinahe ein Ort der Unschuld.

Das 19.Philosophicum Lech findet vom 16. bis 20.September 2015 statt. Thema ist: „Neue Menschen! Bilden, optimieren, perfektionieren“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.