Wie der Tod von "Mutter Indien" zu einem Massaker führte

Mehr als 16 Jahre regierte die machtbewusste Indira Gandhi Indien. Ihr gewaltsamer Tod löste ein Massaker aus.
Mehr als 16 Jahre regierte die machtbewusste Indira Gandhi Indien. Ihr gewaltsamer Tod löste ein Massaker aus.91040/United Archives/picturedesk.com
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Vor 30 Jahren schlug der religiös motivierte Terror in Indien zu: Fanatisierte Sikhs töteten die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi. Was in den Tagen nach dem Attentat geschah, wird in Indien bis heute tabuisiert.

Am Morgen des 31. Oktober 1984 war sie besonders schön gekleidet und frisiert, man hatte ihr gesagt, dass ein safranfarbener Sari gut auf dem Fernsehbildschirm zur Geltung komme. Seit Monaten hatten die Sicherheitsleute ihr geraten, nur mit einer kugelsicheren Weste unter ihrer Bluse an die Öffentlichkeit zu gehen. Das lehnte sie an diesem Tag ab.

Indira Gandhi hatte einen Interviewtermin mit dem weltbekannten britischen Schauspieler Peter Ustinov, der die indische Ministerpräsidentin, damals oft als „die mächtigste Frau der Welt“ bezeichnet, in seiner Fernsehserie „Ustinov's People“ präsentieren wollte. Noch etwas wich an diesem Tag von der Routine ab: Die Hunderten von Menschen, meist die Ärmsten der Armen, die täglich am Morgen bei der verehrten „Mutter Indien“ vorsprechen durften oder auch nur einen Blick von ihr erhaschen wollten, waren an diesem Tag wegen des Termindrucks nicht in den Amtssitz eingelassen worden. Und gegen jede Abmachung bestand die Leibwache vor der Privatresidenz aus zwei Personen, die beide der Religionsgemeinschaft der Sikhs angehörten. Das war aus Sicherheitsgründen eigentlich untersagt.

Apokalyptische Vorzeichen. Der Weg vom Privatbungalow in den Amtssitz war nur kurz, verlief durch einen Garten. Am Tor lächelte sie einen Mann der Leibwache an, Beant Singh, einen Sikh, der ihr seit neun Jahren, auch auf Auslandsreisen, diente. Als Antwort auf ihr Lächeln schoss er ihr mit seiner Pistole mehrmals in den Unterleib. Während sie zusammenbrach, feuerte der zweite Wachebeamte, Satwant Singh, mit seinem Maschinengewehr auf sie. Sie starb sofort. Das Attentat war sorgfältig geplant, beide Männer töteten um der Ehre ihrer Religion willen. Sie ließen sich als Werkzeug nutzen. Wie die Selbstmordattentäter heute.

„1984 gab es Tage, an denen es Mut erforderte, Neu-Delhis Morgenzeitungen aufzuschlagen“, schreibt der Schriftsteller Amitav Ghosh in seinen Erinnerungen, „nirgendwo sonst auf der Welt entsprach das Jahr 1984 so sehr seinen apokalyptischen Vorzeichen wie in Indien.“

Eine Quasi-Diktatur. Das verheerende Gasunglück in Bhopal, die separatistische Gewalt im Bundesstaat Panjab, Unruhen in mehreren Städten und schließlich der grausame Mord an der Ministerpräsidentin – das folgte alles Schlag auf Schlag. Ghosh gehörte zu jenen Intellektuellen, die längst aufgehört hatten, unkritische Bewunderer Indira Gandhis zu sein. Als Regierungschefin und Vorsitzende der Kongresspartei lenkte sie die Politik des Landes über 16 Jahre, als Tochter des Staatsgründers Jawaharlal Nehru hatte sie die Geschichte der Unabhängigkeitsbewegung miterlebt. Im Kalten Krieg, in der Blockfreien-Bewegung, während des Krieges in Ostpakistan, dem späteren Bangladesch, schrieb sie Geschichte. Doch ihre Quasi-Diktatur Mitte der Siebzigerjahre war vielen noch in lebhafter Erinnerung. Die beinahe zwei Jahre dauernde Ausschaltung der Demokratie ist eine der dunkelsten Zeiten des unabhängigen Indiens, und sie wurde dem grenzenlosen Machtwillen und der hochgradigen Paranoia der Regierungschefin zugeschrieben.
Ihre Vorliebe für gefährliche Machtintrigen und zynische Realpolitik führte schließlich auch zu Indira Gandhis gewaltsamem Tod. Jahrhundertelang hatten Sikhs und Hindus im Fünfstromland des Panjab friedlich nebeneinander gelebt, in den 1970er-Jahren waren sie zu Feinden geworden. Der religiöse Fundamentalismus mit seiner fanatischen Treue zu den traditionellen Riten und Symbolen der Sikh-Religion war nur ein Deckmantel. In Wirklichkeit war es im Panjab zu scharfen sozialen Polarisierungen zwischen konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen gekommen. 1981 beging die Gandhi-Regierung ihren ersten Fehler in der Sikh-Krise: Sie ließ Bhindranwale, dem „Khomeini der Sikhs“, einem obskuren verbrecherischen Eiferer an der Spitze einer bewaffneten Anhängerschar, zu lange freie Hand. Zwei volle Jahre besetzte die militante Gruppe die heilige Stätte, das „Mekka“ der Sikhs: den Goldenen Tempel von Amritsar, wo sie einen mittelalterlichen Hofstaat errichtete und ein gewaltiges Waffenarsenal hortete. Im Mai 1984 entschloss sich die Regierung, mithilfe der Armee das Gelände des Goldenen Tempels zu erstürmen, es gab keine andere Möglichkeit, die Herrschaft des Terrors im Panjab zu beenden. Das Blutvergießen von Amritsar – es starben fast 1000 Anhänger Bhindranwales und 300 Soldaten der indischen Armee – entwickelte sich zu einer „Tragödie für Indien“, so Indira Gandhi. Die Sikhs des Panjab besuchten nun weinend das zerstörte heilige Areal von Amritsar, sie waren tief getroffen. Von nun an musste die Ministerpräsidentin eine kugelsichere Weste tragen, bis zu dem Tag, an dem sie aus Eitelkeit darauf verzichtete.

Was am Tag des Attentats in Delhi geschah, hatten viele nicht für möglich gehalten. Noch nie hatte es in der Hauptstadt Ausschreitungen gegen Sikhs gegeben. Nun stand, während Indiras Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, die Stadt in Flammen. Versessen darauf, Rache zu üben, bewaffneten sich junge Männer, Hindus, mit Eisenstangen und Fahrradketten, hielten Autos und Busse an, holten die Sikhs, die an ihren Turbanen und ihrer traditionellen Barttracht erkennbar waren, heraus, schlugen sie nieder, übergossen sie mit Petroleum, zündeten sie an. Von Politikern gedeckt, brausten Organisatoren durch die Stadt und trommelten den Mob zusammen. Häuser, Geschäfte, Firmen von Sikh-Familien wurden angezündet, die Polizei sah teilnahmslos zu, wie kleine Kinder bei lebendigem Leib verbrannten und Frauen vergewaltigt wurden. Der Leitartikel des in Kalkutta erscheinenden „Telegraph“ begann mit dem Satz: „Die Wildheit des Hindu-Pöbels, der durch die Hauptstadt tobte, zeigte wieder einmal, wie sehr die Menschen sich überschätzen – kein Tier hätte je in solcher Brutalität geschwelgt.“ Eine ganze Gemeinschaft wurde behandelt, als hätte sie an der Ermordung Indira Gandhis persönlich teilgenommen. In den folgenden Tagen brannten in Delhi ganze Stadtviertel, 2500 Menschen kamen allein in der Hauptstadt um, die genaue Zahl der Opfer wird auf 5000 geschätzt. Erst eine Ausgangssperre und der Einsatz der Armee beendeten das Morden. Amitav Ghosh: „Alle paar Minuten saßen wir am Radio, aber es wurden nur Trauermusik und Schilderungen von Indira Gandhis öffentlicher Aufbahrung und dem Kommen und Gehen in- und ausländischer Würdenträger gesendet. Die Bulletins hätten Botschaften von einem anderen Stern sein können.“

Wie explosiv ist das Thema heute noch? Der Inder Ravinder Ravi drehte einen Film über die beiden Mörder Indira Gandhis, „eine menschliche“, keine politische Geschichte sollte es sein, die Geschichte ihrer Familien, ihre Gefühle wollte er nacherzählen. Der Filmstart wurde im August verboten, mit der Begründung, man wolle nicht Rachegefühle oder den Gedanken des Märtyrertums aufkommen lassen. Der Film könnte erneut Gewalt zwischen Sikhs und Hindus auslösen. Die Massaker von 1984 kosteten mehr Menschen das Leben als 9/11, doch bis heute gab es keine ernsthaften Bemühungen, die Verbrechen aufzuklären und die Täter vor Gericht zu bringen.

ZUR PERSON

1917 wird Indira Gandhi in die einflussreiche Nehru-Gandhi-Familie geboren. Mit Mahatma Gandhi ist sie zwar weder verwandt noch verschwägert, ihre Familie nimmt jedoch eine Führungsrolle im Unabhängigkeitskampf ein.

1947 wird ihr Vater Jawaharlal Nehru erster Ministerpräsident des nun unabhängigen Indiens.

1966, zwei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, steigt Indira Gandhi erstmals zur Premierministerin auf.

1975 verhängt sie den Ausnahmezustand. Zwei Jahre später wird sie abgewählt.

1980 kehrt Indira Gandhi als Premierministerin zurück.

Am 31. Oktober 1984 fällt die Regierungschefin - nach zusammengezählt über 16 Jahren an der Macht – einem Attentat zum Opfer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2014)

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