Grubenunglück Lassing: Als die Erde Menschen verschluckte

(c) APA (Hans Klaus Techt)
  • Drucken

Beim Einsturz eines Bergwerks in der Obersteiermark im Juli 1998 sterben zehn Kumpel, ein Bergarbeiter wird nach neun Tagen gerettet. Ein Ort zwischen Erinnerung und Suche nach Ruhe und Normalität.

1. Zehn Steinplatten gegen das Vergessen

Kindergejohle vom angrenzenden Spielplatz durchbricht die bedrückende Stille, die sich über dem kreisrunden, von einem kleinen Bach eingerahmten Wiesenfleck ausbreitet. In dessen Zentrum liegen zehn blank polierte Steinplatten aufgefächert zu einem Kreis. Auf jeder Platte: Ein Blumenstock, eine Grablaterne. Darüber in goldenen Messingbuchstaben zehn verschiedene Namen, zehn verschiedene Geburtsdaten der Jahrgänge 1952 bis 1973. Ein gemeinsamer Sterbetag: 17. Juli 1998 – der Tag, an dem sich die Erde am Ortsrand von Lassing zu einem großen Loch öffnete und Häuser und Menschen verschluckte.

2. „Jeder weiß, wo er an diesem Tag war“

„Jeder im Ort weiß heute noch, wann er davon erfahren hat und wo er damals gerade war“, sagt Fritz Stangl. Er selbst saß an diesem späten Vormittag gerade im Warteraum eines Büros in der nahen Bezirkshauptstadt Liezen im obersteirischen Ennstal. Dort erfährt er per Telefon, dass in seiner Heimatgemeinde Lassing ein Haus einstürze. „Das gibt's nicht. Wir haben keine desolaten Häuser in Lassing“, reagiert der damalige Vizebürgermeister auf die erste Nachricht ungläubig. Erst der Nachsatz „dass es beim Werk ein Loch gibt, in das das Haus hinein stürzt“ weckt bei Stangl erste Befürchtungen: „Weil wenn es Einbrüche bis zur Oberfläche gibt, dann muss es etwas Elementares sein“, denkt er sich. „So hat das Unglück begonnen“, sinniert Stangl zehn Jahre später. Wie auf Knopfdruck lösen sich detailreiche Bilder aus seiner Erinnerung.

3. Das Unglück: „Ein komisches Knistern“

Gegen zwölf Uhr mittags nehmen Johann und Christine Mayer ein „komisches Knistern“ wahr. Als sie wenig später aus ihrem Haus gehen, ist ein Teil des Gebäudes bereits zur Seite geknickt. Dahinter hat sich bereits ein riesiger Krater gebildet. Er füllt sich mit Wasser.

60 Meter darunter war ein Stollen eingestürzt und hatte sich mit Schlamm gefüllt. Bis drei Uhr nachmittags gibt es noch Kontakt mit dem unter Tag verschütteten Georg Hainzl. „Schurl, halt durch. Wir holen dich da raus!“, sprechen ihm seine Kumpel Mut zu. „Dann auf einmal ,Zack‘ – keine Antwort mehr“, erinnert sich Stangl. „Das war ein Schock.“ Wenig später macht sich ein zehnköpfiger Rettungstrupp ins Berginnere auf. Spezialbohrer werden herbeigeschafft.

4. „Dann hat der Horror der Nacht begonnen“

Stangl sitzt an seinem Schreibtisch im frisch renovierten Gemeindeamt von Lassing. Draußen kreisen Schwalben um den Kirchturm. Beim örtlichen Nahversorger wird der aktuelle Dorftratsch ausgetauscht. Seit acht Jahren ist Stangl Bürgermeister des schmucken 1800 Einwohner-Orts. Nur mühsam verschwindet der Schatten der bis dato größten Bergwerks-Katastrophe Österreichs aus dem Ort. Auch Stangls Kopf ist voll mit Erinnerungen: „Das ist ein Bild, das ich nie vergessen werde“, erinnert er sich an die Meldung, dass der zehnköpfige Rettungstrupp nach einem Stollen-Einsturz ebenfalls vermisst werde. „Das gibt's ja nicht“, denkt er sich als er die Namen der Kumpel hört. „Ich habe mir das nicht vorstellen können, weil ich ja alle noch eine halbe Stunde zuvor in einem Pausenraum getroffen hatte.“ Mit einem der Kumpel war er eine Woche davor noch bei einem Segelturn in der Türkei unterwegs gewesen.

Die Lage wird immer dramatischer. Gegen 22 Uhr stürzt ein weiteres Haus in den Krater. Der Strom fällt aus. Die Handys funktionieren nicht mehr. „Es ist komplett ruhig geworden“, erinnert sich Stangl: „Und dann hat der Horror der Nacht begonnen.“ Die damalige steirische Landeshauptfrau Waltraud Klasnic eilt an den Unglücksort, spricht den Frauen der Vermissten Trost zu: „Ein Land weint“, fasst sie die Stimmung ein. „Ich weiß nicht, wo der liebe Gott ist“, bleibt selbst Lassings Pfarrer Paul Scheichenberger sprachlos.

5. Das Wunder: „Ja, ich bin's, der Georg“

„Jetzt lebt mein Freund Georg“, kann Scheichenberger das „Wunder von Lassing“ selbst nicht fassen, das sich neun Tage nach dem Unglück, am 26. Juli, ereignet. In 60 Meter Tiefe wird ein Vorraum einer Jausenkammer angebohrt. „Ist da wer“, ruft OMV-Spezialist Leopold Abraham in die Tiefe. Mit einer Antwort rechnet niemand. Dann die legendäre Antwort: „Ja, ich bin's, der Georg. Es geht mir gut, nur die Füße sind etwas kalt.“ Auf einem Tisch liegend, ohne Nahrung in absoluter Dunkelheit, hatte Hainzl überlebt. Wieder keimt Hoffnung auch für die zehn anderen Vermissten auf. Vergeblich. Nach 19 Tagen werden die Rettungsmaßnahmen eingestellt.

6. „Alle wollen die Geschichte abhaken“

19 Bäume, die rund um die Gedenkstätte gepflanzt wurden, erinnern heute an diese Zeit des Bangens und der – nicht erfüllten – Hoffnung. „Es war großer Mut. Es ist großer Schmerz. Es wird nie vergessen werden“, steht auf einer Erinnerungstafel in Sichtweite zum Werksgelände.

Unter Tag abgebaut wird seit dem Unglück nicht mehr. Die Naintscher Mineralwerke haben rund 30 Millionen Euro Schadensersatz bezahlt. Das Mahlwerk hat vor einem Jahr die „Paltentaler Minerals“ übernommen, deren neues Forschungslabor in zwei Wochen bezugsfertig ist. Auch einige Angehörige der Lassing-Opfer arbeiten hier. „Aber alle wollen das, was passiert ist abhaken“, sagt Geschäftsführer Bernhard Gutternigg.

7. Erinnern abseits der Scheinwerfer

Am zehnten Jahrestags des Bergwerk-Unglücks wird sich Lassing in aller Stille an seine Opfer erinnern. Zum abendlichen Gottesdienst wird niemand explizit eingeladen, „aber wir freuen uns über jeden, der kommt“, sagt der Bürgermeister. Offiziell soll erst am 3. Oktober bei einer Angelobungsfeier des Bundesheeres der Opfer gedacht werden. „Mit der zeitlichen Entfernung haben wir wieder mehr Ruhe in uns“, begründet Stangl.

Die Angehörigen der Verstorbenen selbst haben in einer schriftlichen Stellungnahme die Öffentlichkeit um Ruhe gebeten. „Jede Frage nach den damaligen Geschehnissen ruft bei uns auch den Schmerz wieder hervor, zwingt uns, alle emotionalen Belastungen wieder zu erleiden“, heißt es in dem Schreiben.

AUF EINEN BLICK

■Lassing gilt als größte Bergwerks-Katastrophe der Zweiten Republik.

Am 17. Juli 1998 brechen im Talkum-Bergwerk Stollen ein. An der Oberfläche bildet sich ein Krater, in dem Häuser versinken. Elf Bergleute werden verschüttet, nur einer, Georg Hainzl, kann lebend geborgen werden.

Zwei Jahre später endet der Lassing-Prozess mit Schuldsprüchen gegen Werksleiter und Berghauptmann. Die Naintscher Mineralwerke zahlen 30 Mio. Entschädigung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.