Die Welt bis gestern: Julius Raab (Teil 3): Triumph und Verklärung

Nach dem Staatsvertrag 1955 gab es viel Koalitionsverdruss.

Zwei Männer – heute weitgehend in Vergessenheit geraten – können als die eigentlichen Geburtshelfer des österreichischen Staatsvertrages 1955, der Freiheit und Souveränität Österreichs gelten. Da ist einmal Raabs Bruder Heinrich, der in der Schweiz lebte und dem berühmt gewordenen Bruder die Vorzüge eidgenössischer Neutralitätspolitik schilderte. Heinrich war vor 1938 Bürgermeister in St.Pölten und entkam den Häschern der Gestapo. So war in späteren Erklärungen Raabs immer wieder von einer „Neutralität nach dem Muster der Schweiz“ die Rede.

Der zweite Schlüsselspieler hieß Norbert Bischoff, seit 1947 Österreichs Botschafter in Moskau. Der für einen Diplomaten recht unkonventionelle Mann hatte beste Kontakte zu den Kreml-Machthabern. Ihm gelang es, das Misstrauen des Außenministers Molotow gegen den einstigen Austrofaschisten Raab aufzuweichen. Er schrieb Molotow einfach einen Brief, ohne ihn mit dem Wiener Außenamt abzusprechen: Der „schwarze“ Raab sei ein Realpolitiker, ein harter, aber verlässlicher Verhandlungspartner. Er habe „den festen Willen, Österreich zu einem neutralen Staat zu machen“. Allerdings könne sich Raab nur an der Macht halten, wenn ihm der Kreml entgegenkomme: also Besatzungserleichterungen, Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft...

Das Wunder von Moskau

Dieses eigenmächtige Vorgehen – noch dazu ohne Konsultation der westlichen Besatzungsmächte – hätte bei jedem anderen Botschafter zur fristlosen Entlassung geführt. Doch Bischoff hatte geschickt das Terrain aufbereitet. Am 24.März1955 – nach Jahren zermürbender Viermächte-Verhandlungen über Nachkriegsdeutschland und -österreich geschah das Wunder. Moskau lud die österreichische Regierung in den Kreml ein.

Über den Verlauf der dreitägigen Gespräche in Moskau ebenso. Immerhin haben zwei der vier Hauptakteure – der SP-Vizekanzler Adolf Schärf und der SP-Staatssekretär Bruno Kreisky – in Memoiren ihre Sichtweise dargestellt. Raabs Einfluss wurde von seinem damaligen Sekretär, Botschafter Ludwig Steiner, für die Nachwelt aufgezeichnet.

Die Darstellungen, die voneinander gehörig abweichen, sind kompakt und in all ihrer Spannung bei Gerald Stourzh nachzulesen („Um Einheit und Freiheit“ im Böhlau-Verlag), ebenso in dem zweibändigen Werk von Rolf Steiniger und Michael Gehler („Österreich im 20.Jahrhundert“, ebenfalls Böhlau).

Ein Jubel sondergleichen umtoste am 15.Mai1955 Österreichs Nationalhelden auf dem Balkon des Schlosses Belvedere. Der Staatsvertrag war von den vier Siegermächten unterschrieben – und in menschlicher Feinfühligkeit hatte Raab seinen Freund Figl für Österreich unterschreiben lassen. Für die beiden Freunde war es ihr größter Tag.

Was danach kam, war weniger erfreulich. Raab hatte sich noch bis zum April 1961 als Chef einer Großen Koalition am Ballhausplatz geärgert, dann zog er einen Schlussstrich. Er retirierte dorthin, wo seine Laufbahn begonnen hatte – in die Bundeskammer, als Präsident. Dazu übernahm er auch noch die Funktion des Wirtschaftsbund-Chefs, saß also weiter in jeder VP-Präsidiumssitzung. Seine engsten Vertrauten waren hier Franz Korinek, der Vater des bisherigen VfGH-Präsidenten Karl K., und Heinrich Kainz, sein Sekretär, später Kammeramtsdirektor. Auch als Siebzigjähriger lehnte Raab jede Schonung ab. Dabei war er bereits an Krebs erkrankt.

Aus reinem Pflichtgefühl, ohne jede Aussicht auf Erfolg ließ er sich 1963 als Gegenkandidat zum amtierenden Bundespräsidenten Adolf Schärf aufstellen. 1957 hatte er das ausgeschlagen, als er höchstwahrscheinlich als haushoher Sieger aus der Wahl hervorgegangen wäre. Jetzt war er todkrank, es gibt erschreckende Bilder von seiner Wahlkampagne. „Ich gehorche“, sagte er lediglich, als ihn die Partei in dieses aussichtslose Rennen schickte. Raab unterlag. Am 8.Jänner1964 starb der „Freiheitskanzler“ im Floridsdorfer Spital.

Die bitterste Freundespflicht

Tags darauf wurde das politische Testament des Staatsmannes veröffentlicht. „[...] Alle bitte ich inständig, die rot-weiß-rote Fahne hochzuhalten [...] Der schönste Freundschaftsdienst, den mir jemand erweisen will, ist ein stilles, andächtiges Gebet. Ich hoffe, dass mir der Herrgott ein gnädiger Richter sein wird und die Gottesmutter eine gütige Fürbitterin. Und nun lebe wohl, schöne Welt! Ich fürchte den Tod nicht. Er ist Erlösung von der Erdenschwere, von der vergänglichen Materie, ein schöner Schritt dem wirklichen Endziel zu: Gott zu schauen und seine Herrlichkeit.“

Am 14. Jänner bereiteten die Österreicher dem Altkanzler ein berührendes Staatsbegräbnis. Weil es im Testament so angeordnet war, musste sich sein engster Freund Leopold Figl – als einziger Trauerredner – von ihm verabschieden. Er unterwand sich dieser Pflicht, aber bald versagte ihm die Stimme: „Leb wohl, du großer Staatsmann, du großer Österreicher, leb wohl, Julius, auf Wiedersehen...“

WAS BISHER GESCHAH

Offizier, dann Heimwehrführer.

Der 1891 in St.Pölten geborene Baumeister Ing. Julius Raab kämpft im 1. Weltkrieg als Pionier-Leutnant an der Isonzo-Front. Ab 1927 christlichsozialer Nationalratsabge-ordneter, gleichzeitig NÖ-Landesführer der Heimwehr, also ein „Austrofaschist“.

Minister für ein Monat.

Nach einem Monat als Handels- und Verkehrsminister unter Kanzler Schuschnigg erfolgt 1938 der „Anschluss“, Raab gründet in Wien eine kleine Baufirma.

Mann der ersten Stunde.

Am 17.April1945 wird im Wiener Schottenhof die ÖVP gegründet. Raab ist dabei. Er wird erster Wirtschaftsbund-Obmann.

Fraktionsführer und Figl-Helfer.

Nach den ersten freien Wahlen im November 1945 wird Raab Klubobmann. Er steigt zum mächtigsten Mann hinter Leopold Figl auf, leitet zugleich die Bundeskammer.

Alleinherrscher in der ÖVP.

1953 löst Raab seinen Jugendfreund Figl als Bundeskanzler ab. Parteiobmann war er schon seit 1952. Figl wird Außenminister.

[“Die Presse“/Ironimus, 1. Jänner 1955]

Der nächste Beitrag der Zeitgeschichte-Serie „Die Welt bis gestern“ erscheint
am 23.August.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2008)

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