Giannini: „Ich liebe die Herausforderungen“

ARCHIVBILD von GIUSEPPE GIANNINI    (Sturm Graz)
ARCHIVBILD von GIUSEPPE GIANNINI (Sturm Graz)(c) APA (GEPA)
  • Drucken

Giuseppe Giannini, einst Legionär bei Sturm Graz, hat keinen einfachen Job. Der 50-jährige Italiener soll eine starke Nationalmannschaft aufbauen. Aber zumeist geht es im Libanon um ganz andere Dinge.

Die Presse: Trotz verpasster Qualifikation für die Asienspiele und die WM 2014 herrscht nach dem letzten 2:2-Unentschieden gegen die Unter-23 von Brasilien Aufbruchstimmung. Statistisch gesehen gehört 2014 zu einem der besten Jahre in der libanesischen Geschichte. Wie fällt Ihre persönliche Bilanz der ersten 15 Monate Ihrer Amtstätigkeit aus?

Giuseppe Giannini: Gut, sehr gut. Man muss sich die Gesamtentwicklung anschauen. 2011 rutschte das Land in der Fifa-Rangliste auf Platz 178 ab. Das war der Tiefpunkt. Als ich am 1. Juli 2013 übernommen habe, war Libanon auf Rang 132. Jetzt sind wir 115ter in der Welt. So gesehen kann man von einem kontinuierlichen Aufwärtstrend sprechen.

Drückt sich dieser Trend nur in Zahlen oder auch auf dem Platz aus?

Das drückt sich vor allem in der Einstellung der Spieler aus. Sie haben ein neues Selbstverständnis. Für mich ist die Vorbereitung auf das Spiel bereits matchentscheidend. Wir haben beispielsweise extrem viel im taktischen, sportmedizinischen und ernährungstechnischen Bereich gearbeitet. Wir haben Laufwege hinterfragt und analysiert, Laktattests während der Spiele eingeführt und gewisse Süßgetränke ein für alle Mal von der Ernährungsliste gestrichen. Diese Vorgehensweise waren die Spieler in der Form und in dieser Intensität nicht gewohnt.

Dennoch fährt Libanon 2015 wieder nicht zum Asian Cup.

Uns haben ein Tor oder lächerliche zehn Minuten gefehlt – je nachdem, wie man es sieht. Im entscheidenden Spiel lagen wir in Thailand mit 5:1 in Führung. Der ehemalige Bundesligaspieler Roda Antar hatte das entscheidende Tor gemacht. Dachten wir zumindest. Und dann kriegen wir kurz vor Schluss noch das 5:2 und China fährt dank der besseren Tordifferenz nach Australien. Dennoch habe ich mich bei all meinen Spielern bedankt. Sie haben Großes geleistet. Ihnen gebührt mein Respekt.

Inwiefern?

Man muss sich die Situation vor Augen führen, in der wir arbeiten. Fußball im Libanon entspricht nicht dem Hightech-Ansatz, wie ich ihn aus der Serie A und aus Europa gewohnt war. Die Realität hier ist anders. Du nimmst, was du kriegen kannst. Manchmal müssen wir um 13 Uhr trainieren. Dann hat es eine Affenhitze. Auch möchten wir den Fastenmonat Ramadan respektieren. Das musst du in der Vorbereitung und im Training berücksichtigen. Gleichzeitig sollst du die Konzentration hoch halten und immer professionell agieren. Das erfordert viel Fingerspitzengefühl, Flexibilität und Improvisationstalent.

Der Libanon war zwischen 1975 und 1990 in einen Bürgerkrieg verwickelt. Die Folgen des zweiten Libanon-Kriegs 2006 sind omnipräsent. Im Nachbarland Syrien tobt derzeit ein Krieg. Können Sie sich angesichts dieser Konstellation überhaupt auf den Fußball konzentrieren?

Ich möchte die politische Situation nicht kommentieren. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich kann derlei Dinge aber freilich nicht immer von mir und meinen Spielern fernhalten.

Was meinen Sie damit?

Vor gut einem Monat ist eine Bombe keine 500 Meter von meinem Hotel in Beirut hochgegangen. Den Rauch habe ich von meinem Fenster aus gesehen. Den Donner hast du meilenweit gehört. Auch die Sirenen und die Schreie. Das war schrecklich. Dann kannst du nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und beim Training sagen: „Los Leute, lasst uns heute mal hohes Pressing üben.“ Das arbeitet in einem. Und logischerweise auch in den Spielern.

Wie reagieren Sie als Trainer darauf?

Ich versuche, kühlen Kopf zu bewahren und mich auf meinen Job zu konzentrieren, aber immer geht das auch nicht. Im November vergangenen Jahres haben sich Attentäter vor der iranischen Botschaft in die Luft gesprengt. Bei dem Anschlag kamen 23 Menschen ums Leben. Am Abend haben wir gegen den Iran gespielt. Bis wenige Minuten vor dem Spiel wurde heftig diskutiert, ob überhaupt gespielt wird. Dann wurde entschieden: Wir spielen. Im leeren Stadion. Ohne Zuschauer. Wir haben an diesem Abend 1:4 verloren.

Da wird der Fußball schnell nebensächlich...

So etwas ist mental nicht leicht zu verkraften. Dazu kommt, dass wir von den vier Heimspielen in Beirut aus Sicherheitsgründen dreimal vor leeren Tribünen gespielt haben. Sehr oft weichen wir nach Doha aus. Die Fans fehlen uns natürlich. Deren lautstarke Unterstützung kann schon einmal den Unterschied ausmachen.

Wie sehr ist der Fußball willkommene Ablenkung?

Für viele Außenstehende ist die Realität hier schwer zu begreifen: Unruhen, Unsicherheit, unzählige Religionsgruppen. Und mittendrin unbekümmert Fußball spielen – wie soll das gehen? Und doch geht es. Meistens zumindest. Wenn es um Fußball geht, stehen alle Religionsgruppen geschlossen hinter uns. Der Fußball bietet den Libanesen die seltene Gelegenheit, sich als Nation zu fühlen. Das ist schon einiges.

Wie erleben Sie den Fußball im Alltag?

Die Libanesen sind sehr fußballinteressiert. In den Bars und Cafés läuft ständig Fußball. Zumeist die spanische Liga, manchmal auch die englische oder die italienische. Ich spüre sehr viel Fußballbegeisterung, auch wenn ich mir Freitag, Samstag, Sonntag die Ligaspiele anschaue. Vor allem die Euphorie um die Nationalmannschaft ist jetzt groß. Unser Remis gegen Brasilien wurde in Doha von tausenden mitgereisten Fans und umso mehr bei unserer Rückkehr bejubelt.

Im Libanon spricht man schon jetzt von einer Goldenen Generation, die gerade heranwächst. Sie haben einen Zweijahresvertrag unterschrieben. Welche Ziele haben Sie?

Ich bin angetreten, um eine neue Generation an Spielern auszubilden – als Basis für eine bessere Zukunft. Kürzlich wurde mir neben dem A-Team auch die Unter-23-Nationalmannschaft anvertraut. Ich gehe auch in die Schulen und schaue Frauen beim Fußballspielen zu. Der Neuaufbau nimmt Konturen an. Nur: Es braucht Zeit und Geduld, um ein Team zu formen und Strukturen im Nachwuchs zu etablieren. Das geht nicht von heute auf morgen. Die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2016 sollte hingegen realistisch sein.

Was benötigt es, um weiter zu wachsen?

Libanon ist eine technisch versierte und schnelle Mannschaft. Wir haben Potenzial und den ein oder anderen Spieler, der wie Hassan Maatouk oder Abbas Atwi den Sprung ins Ausland schaffen kann. Unser Manko ist die taktische Erfahrung. Ich bin hier, um den Spielern zu helfen, sich taktisch weiterzuentwickeln. Deshalb spreche ich mit jedem einzelnen Spieler sehr viel. Spielsysteme und Standardsituationen sind wichtige Themen. Eingeübte Spielzüge ebenfalls. Ich habe das von Anbeginn immer wieder trainieren lassen, bis es beim 2:1 gegen Brasilien geklappt hat.

Ein letztes Wort zu Ihrer persönlichen Zukunft: Können Sie sich eine Rückkehr als Trainer nach Österreich vorstellen?

Wieso nicht? Der österreichische Fußball ist stark im Kommen. Da entsteht gerade etwas Großes. Das zeigen die Resultate von Salzburg und von der Nationalmannschaft in der laufenden EM-Qualifikation. Darko Milanič, mit dem ich gemeinsam bei Sturm Graz gespielt habe, ist nach Graz zurückgekehrt, jetzt hat man sich von ihm bei Leeds leider getrennt. Ich fühle mich in Beirut derzeit sehr wohl, aber ich liebe auch die Herausforderungen.

ZUR PERSON

Giuseppe Giannini (*20. August 1964 in Rom) hielt dem AS Roma von 1982 bis 1996 die Treue. Eine Saison spielte er in Graz bei Sturm, dann bei Neapel und Lecce. Trainerstationen: Foggia, Sambenettese, Arges Pitesti, Massese, Gallipoli, Hellas Verona, Grosetto. Seit 2013 Libanon. [ privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.