Der Faschist und das Mädchen

46 Jahre haben sie nichts voneinander gehört, Marija und ihr Vater. Als 1991 der Krieg in Jugoslawien ausbricht, suchen sie sich in ihrer kroatischen Heimat. Norbert Gstreins Ro- man „Die Winter im Süden“– eine europäische Geschichte.

Ideologie verbiegt – nicht nur die Menschen, auch die Literatur. Das ist Norbert Gstreins Credo, das er nun zum dritten Mal vor dem Leser exemplifiziert. „Die Winter im Süden“ heißt sein neues Werk; es ist in gewisser
Weise der Abschluss einer „Trilogie des Krieges“. Fulminant begonnen hat diese Reihe mit dem Roman „Die englischen Jahre“, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Ihren konstruktionstechnischen Höhepunkt fand sie mit dem im Jugoslawienkrieg angesiedelten „Handwerk des Tötens“. Nun klingt sie mit einem Roman aus, der den Zweiten Weltkrieg mit dem Krieg am Balkan verbindet.

Marija, Hauptperson des neuen Buches, wird zur Zeit des Weltkriegs in Zagreb geboren und flüchtet an dessen Ende mit ihrer Mutter nach Wien. Als Angehörige eines kroatischen Faschisten müssen sich die beiden vor den Partisanen Titos in Sicherheit bringen. Jetzt, als 50-Jährige, flieht Marija zu Beginn des jugoslawischen Sezessionskriegs aus einer schlaff gewordenen Ehe mit einem ehemals kommunistischen, inzwischen korrupten und deshalb erfolgreichen Wiener Journalisten in die Heimat. Marijas Vater, Antikommunist und Soldat im kroatischen Ustascha-Staat, wird mit Hilfe des Vatikans nach Argentinien geschleust, beginnt dort ein Leben als Geschäftsmann und hat Erfolg damit. Über seinen Verbleib lässt der im Roman nur „der Alte“ genannte kalte Krieger seine ursprüngliche Familie im Ungewissen.

Leidtragende der ideologischen Kriege der Männer sind immer die Frauen. „Töchter müssen nach dem Krieg weiterleben. Vielleicht ist das manchmal für sie nicht unbedingt leichter“, heißt es gegen Ende des Buches, das mit dem Motto „it's war, baby, it's war“ beginnt. Ideologie ist Krieg der Männer gegen die Frauen, könnte demnach die Botschaft des Romans lauten. Deren „Ideologie“, so seine weitere implizite Aussage, ist eine viel vitalere, nämlich Geliebtwerden und – gegebenenfalls – zu lieben.

Das Buch deshalb zum feministischen Roman zu erklären, wäre allerdings voreilig. Dem Tiroler Autor geht es um einiges mehr. Er will nicht nur die ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts darstellen und solcherart ein Zeitpanorama entwerfen, er will darüber hinaus stets das Verhältnis zwischen dem Faktischen und dem Fiktionalen, also die Bedingungen des Schreibens im Schreiben reflektieren, und er will außerdem vor Augen führen, dass politisch opportune Literatur immer schlechte Literatur ist. Das ist ein bisschen viel auf einmal. Doch es ist mehr als die großen belletristischen Geschichtserklärungen, die in der deutschsprachigen Literatur seit einigen Jahren Konjunktur haben. Ähnlich wie Jenny Erpenbeck in ihrem Roman „Heimsuchung“ braucht Gstrein kein Herbeizitieren sämtlicher historisch relevanter Daten in epischer Breite, um ein Geschichtspanorama zu erzeugen. Er kommt mit drei Jahreszahlen aus, um einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart zu spannen: 1945, 1968 und 1991. Kriegsende, Kriegsaufarbeitung und Kriegsausbruch. In dieser Beschränkung liegt die Meisterschaft.

Ausgespart bleiben auch so manche persönliche Geschichten, etwa, ob der Alte im Zweiten Weltkrieg Menschen umgebracht hat, und wenn ja, welche und unter welchen Umständen, wer die Dunkelmänner sind, die er von damals kennt und mit denen er sich nach seiner Ankunft in Zagreb abgibt, oder wie Albert, der Mann Marijas, Karriere gemacht hat und welcher Tendenz die Artikel sind, die er über Jugoslawien geschrieben hat. Vieles bleibt in diesem Roman im Dunkel. Es ist ein Buch der Andeutungen geworden, was durchaus Gstreins Erzählhaltung entspricht. Was geschehen oder nicht geschehen ist, wer Schuld hat und wer nicht, was links und was rechts, was gut und was böse ist, darüber lässt sich nichts Eindeutiges mehr sagen. Diesem Umstand trägt Gstrein mit einer Poetik der Ungewissheit Rechnung. Literatur wird für ihn zur Lebenslügenmaschinerie, gibt sie die Wirklichkeit linear wieder. Erst recht, wenn sie versucht, konsistente Charaktere zu schaffen. Bei ihm können deshalb Faschisten marianisch und Patres antisemitisch, Polizisten friedliebend und Kommunisten gesinnungslos sein. In dieser Typologie steckt auch Gstreins Spiel mit politisch-ideologischer Inkorrektheit, die ihm manche Literaturfehde eingetragen hat.

Kritik musste der gelernte Mathematiker Gstrein auch wegen seiner Neigung hinnehmen, nicht auf seine Erzählung zu vertrauen und die Literatur auf dem Reißbrett zu entwerfen. Das hat zwar den Vorteil des hohen Reflexionsniveaus, das seine Prosa weit über die Creative-Writing-Literatur hinausragen lässt. Aber es birgt den Nachteil der Konstruiertheit. Im „Handwerk des Tötens“ hat seine Technik ihren Höhe-, zugleich aber auch Endpunkt erreicht. Um die vielfache Brechung der Wirklichkeit in der Literatur sinnfällig zu machen, sind darin mehrere Erzählebenen eingezogen, was der Lesbarkeit des Buches nicht gutgetan hat.

Im neuen Roman hat er die Komplexität der Bauweise deutlich reduziert und die Algebra zugunsten der Poesie zurückgedrängt. „Die Winter im Süden“ bestehen vor allem aus zwei parallelen Handlungen, die abwechselnd vorangetrieben werden. Nun sagt man, dass sich Parallelen in der Unendlichkeit schneiden. Leider eben erst dort. Das ist das Prinzip dieses Romans, der die Heimkehr von Marija und ihrem Vater nach Kroatien sowie ihrer beider Aufenthalt dort vor dem Hintergrund des beginnenden Krieges parallel führt. Der Alte sieht nach der Implosion des Kommunismus die Chance, noch einmal Heimaterde unter die Füße zu bekommen, Marija, wird von einer diffusen Sehnsucht gepackt. Für ihn ist es eventuell der Anfang vom Ende seines Lebens, für sie vielleicht der Anfang vom Ende ihrer Ehe. Sie sucht das Leben, er den (Helden)Tod.

Dieser Dualität der Handlung entspricht die Spiegelung der Figuren. Albert ist Claudia, die junge, starke Ehefrau des Alten, gegenübergestellt. Das patagonische Mädchen, das er aus ärmlichen Verhältnissen herausgeholt hat, fühlt sich aber nicht zu ewiger Dankbarkeit verdammt, sondern schnappt sich kurzerhand Ludwig, den österreichischen Expolizisten, den der Alte als Butler engagiert hat. Dieser sanftmütige Mann wird wiederum von Angelo, Marijas machistischem Liebhaber in Zagreb, gespiegelt.

Das Buch endet mit dem Hinweis darauf, dass es in der Literatur nie um den Ernstfall des Lebens geht, dass das Leben größerer Anstrengung bedarf als Geschichtenschreiben, „größer jedenfalls als die kleine Mühe, ein Buch zuzuklappen, das zu Ende war, und nicht mehr daran zu denken“. Gstreins Roman ist ein Ernstfall der Literatur. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2008)

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