Bernhard, Bachmann & Erben

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Literatur. Es gibt ihn noch, den österreichischen Roman, aber er hat das Verschrobene und Verrückte nicht mehr.

Nicht in allem, auf dem „Roman“ steht, ist ein Roman enthalten. Aber abgesehen davon: Es liegt am gesellschaftlich intendierten Verschwinden der Persönlichkeit, und nicht an der Literatur, dass es kaum individuelle, herausragende, irritierende Romane mehr gibt. Auswechselbarkeit und Kalkulierbarkeit haben Zukunft. Bachmann hat zur Zeit des großen Schweigens den Finger auf die Tabuthemen Faschismus und Frauenunterdrückung gelegt; Bernhard hat in der Blütezeit des Bürgertums bzw. Mittelstandes seine endlosen, von Adeligen und Fürsten geführten Dialoge, alles Monologe, geschrieben; Handke hat sich in der Zeit der Politisierung der Literatur als „Bewohner des Elfenbeinturms“ bezeichnet; Jelinek hat beinahe jede Konsumierbarkeit ihrer Romane abgelehnt. Auch im heutigen Roman wird Widerstand geleistet. Aber es kommt mir so vor, mehr auf der gesellschaftlichen Ebene. Der persönliche Widerstand schwindet.

„Ich bin aber auch ganz unfähig, an die Dinge zu denken, die man mir zum Denken verordnet, an einen Termin, an eine Arbeit, an eine Verabredung, nichts ist mir deutlicher um sechs Uhr morgens als die Ungeheuerlichkeit meines Unglücks.“ Der Satz stammt von Ingeborg Bachmann, und nicht von Thomas Bernhard. An dieser Mythenbildung hat Thomas Bernhard selbst keinen Anteil. Die Mythenbildung wird gerne benutzt, wenn wieder einmal die Krise der Literatur heraufbeschworen wird. (Zu welchem Zweck auch immer, ich vermute: zu Profilierungs- und/oder Verkaufszwecken.) Die Literatur ist aber, im Gegensatz zur Börse, vollkommen krisenunanfällig. Solange es Menschen gibt, die ernsthaft nachdenken, und das auch ausdrücken können, gibt es sie. Sie kann allerdings behindert, verschwiegen, unterdrückt werden. Und es kann, im Gegenzug dazu, Kitsch und Quatsch gefördert, gehypt, prämiert werden.

Das verändert insgesamt das Bild des Schriftstellers und des Romans. Schnell ist ein nicht erfolgreicher Schriftsteller dann auch für die Kollegen weltfremd, abgehoben, arrogant oder einfach nicht so verschlingbar „wie ein lauwarmer Apfelstrudel“, ein Kompliment, das beispielsweise Eva Menasse in einer euphorischen Rezension für ihr Buch „Vienna“ erhielt.

Ich glaube, Thomas Bernhard hätte unter solchen Startbedingungen nie zu schreiben begonnen, sondern sich lieber umgebracht. Ich glaube allerdings nicht, dass einzelne Schriftsteller, sei es Thomas Mann, Thomas Pynchon oder Thomas Bernhard, Maßstäbe setzen, nach denen es den nachrückenden Schriftstellergenerationen schwer oder unmöglich wird, herausragende Romane zu schreiben. Im Gegenteil. Jeder außergewöhnliche, singuläre Schriftsteller erweitert die schriftstellerischen Möglichkeiten für andere. Ich glaube, dass die Maßstäbe ganz woanders liegen: nämlich in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Markt und Literaturkritik. Dort sind die Krisen angesiedelt, nicht in der Literatur. Die singulären Erscheinungen Ingeborg Bachmann (geb. 1926), Thomas Bernhard (geb. 1931), Peter Handke (geb. 1942) und Elfriede Jelinek (geb. 1946) setzten davor noch Zäsuren.

Von der Füllfeder zu Copy & Paste

Die Autoren vor 1950 haben noch mit der Hand, mit Füllfeder oder Bleistift, bestenfalls auf der mechanischen Schreibmaschine geschrieben. Die Autoren, die nach 1950 geboren sind, haben andere Bedingungen vorgefunden: Sie haben die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit nicht erlebt. Sie haben in einer Zeit des Wirtschaftswunders, des Aufschwungs der Massenmedien, der weltweiten Kommunikation durch das Internet zu schreiben begonnen. Sie haben im Laufe ihres Schriftstellerlebens mitverfolgt, wie sich das Angebot von Büchern ungeheuer vervielfacht hat, der Zugang zu den Literaturen anderer Kulturen sich weit geöffnet hat, wie sich die Arbeitsbedingungen für den Schriftsteller durch Laptop (die problemlose Umstellung von Textpassagen durch Knopfdruck, die vielen Textvarianten, die auszuprobieren und gleichzeitig zu speichern ganz leicht ist) und das Internet (durchs leichtere Recherchieren) verändert haben. Copy & Paste bzw. Copy & Waste wurden zu einem literarischen Mittel.

Aus all dem sind (in)konsequenterweise E-Mailromane entstanden, ein Chinese hat sogar einen SMS-Roman geschrieben. Aufgrund der Informationsfülle übers Internet – anstelle eigener Erfahrung aus dritter Hand – entstanden neue Entwicklungs-, Familien- und Künstlerromane. Es sind Patchwork- und Puzzleromane, historische Romane, viele Autobiografien. Auf alle Fälle aber ist die Frage nach Fiction und Faction aufgeworfen worden. Wenn mir (fast) alle Fakten zugänglich sind, wenn der Literatur durch die Medien und Wissenschaften fast alle ursprünglichen Funktionen abhanden gekommen sind, was bleibt?

Mir scheint, es bleiben drei Richtungen: Die eine Richtung benutzt die neuen Medien (als Informationsquelle, Weltöffnung, Globalisierung, Arbeitsmethode), die andere beharrt auf traditionellen Formen als Widerstand, die dritte wählt die subjektive, oft fast private Weltsicht. Fast niemand aber knüpft dabei an Bernhard, Bachmann, Handke oder Jelinek an. Sind die für uns heute zu schwierig, zu spezifisch, zu individuell, zu verschroben, zu stur? Zu sehr sprachbezogen? Nicht quotenfähig mithin?

Die Literaturkritiker und Entscheidungsträger, mitbedingt durch die Globalisierung der Kunst, haben sich entschlossen, U und E aufzuheben, was den Massenmedien, der Werbung, den Verkäufern von Literatur hervorragend ins Konzept gepasst hat. Die Autoren nach Bernhard, Handke, Bachmann und Jelinek haben ferner erlebt, dass Bestsellerlisten, die man früher verachtet hat, Rankings und Ratings (= Autorenschelte!) und Quotings, Preise und Auszeichnungen überlebenswichtig werden für den Autoren und für den parasitären Rezensenten. Gleichzeitig haben sie feststellen müssen, dass sich die Bestsellerlisten, die Rankings und Ratings und Quotings und Preise immer mehr akkumulieren auf vier, fünf Schriftsteller, die gerade en vogue sind. Der schriftstellerische Mittelstand schwindet, so wie der Mittelstand überhaupt in unserer Gesellschaft ums Überleben kämpft. Die Schere geht auseinander. Bei der immer steigenden Zahl von literarischen Neuerscheinungen kann man sich vorstellen, wie viele interessante Bücher dabei verloren gehen.

Andere Bücher hingegen werden literatursalonfähig. Denken Sie nur an die vielen Schauspieler, Sänger und Widerlinge wie Dieter Bohlen, die ihre Memoiren schreiben, ModeratorInnen, die Krimis verfassen, Verleger, die selbst zu Autoren werden, Werbetexter, die das Fach wechseln. Sie alle bringen a priori etwas mit, mit dem der beginnende Schriftsteller vor den 50er-Jahren nicht rechnen konnte: Glanz und Glamour, Bekanntheit aus Zeitschriften oder Boulevardblättern, Know-how aus dem Verlagswesen oder der Werbung. Denn Bestsellerlisten, Rankings und Ratings und Preise beruhen auf der Quote. (Dieter Bohlen jüngst im O-Ton bei RTL in „Das Supertalent“: „Wenn ich aus dem Fenster springe, steht's in der Bild-Zeitung, wenn Sie [ein Kandidat] aus dem Fenster springen, steht's in ,Schöner Wohnen‘“.)

Das Dümmere wird bevorzugt

Das haben Bestsellerlisten zwar immer getan (auch Hildegard Knef ist vor 38 Jahren schon mit ihren Memoiren auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste gelandet), nur konnten wir es uns lange leisten, darüber zu lächeln. Bücher, die früher auf der Bestsellerliste standen, habe ich grundsätzlich gar nicht gelesen. Heute regiert überall die Quote. Die Quote ist immer der angenommene Durchschnitt. Nur, ich habe den Verdacht, der angenommene Durchschnitt ist weit dümmer als der wirkliche Durchschnitt. Das kann man leicht im Fernsehprogramm nachverfolgen. Es scheint so, als würde grundsätzlich die dümmere Sendung der besseren vorgezogen, der dümmste Comedian immer dem besseren Kabarettisten, das schlichtere Drehbuch immer dem anspruchsvolleren. So ist es auch bei den Romanen. Nicht immer. Gott sei Dank! Was seit dem Wegfall des Kommunismus als konkurrierendes Wirtschafts- und Staatssystem den Finanzmärkten fehlt, den einzelnen Staatsgebilden, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen (das ja einen Auftrag hat oder einmal hatte) fehlt auch der Literatur: regulierende Eingriffe! Und da wären wir bei der Literaturkritik angelangt.

Felix Philipp Ingold hat in „Volltext“ Nr. 5/2008 einen großartigen Artikel zur Krise der Literaturkritik geschrieben, die ihrem ursprünglichen Auftrag, nämlich zwischen Autor und Publikum zu vermitteln, Literatur aufzubereiten, nicht mehr gerecht wird, seit sie in klammernder Umarmung – einerseits mit der Werbung, andererseits mit dem Publikum – verharrt. Sie ist nicht mehr reflektierend und argumentierend. Laut Ingold gibt sie sich entweder „poetisch“, gefühlsduselig, geschmäcklerisch oder selbstherrlich.

Verlorene Bilderfreiheit

Hat alles damit angefangen, dass Marcel Reich-Ranicki in bester Absicht, nämlich vielen Menschen Lust auf Literatur zu machen, ins Fernsehen ging? Es ist Reich-Ranicki zu verdanken, dass seine Sendungen bilderfrei blieben. Ich kann mich gut erinnern, als ich vor ein paar Jahren den Fernseher einschaltete, um eine Zusammenfassung der Frankfurter Buchmesse zu sehen, und geschlagene drei Minuten lang eine Krimiautorin, die ich bis dahin vom Sehen nicht kannte, um Ecken schlich, hinter Türen hervorlugte und schließlich wie tot vor einem Bücherregal lag. Oder wie ein Literaturkritiker in einer Sendung in einem Paddelboot auf einem See saß, und die Bücher, die ihm nicht gefielen, ins Wasser warf. (Läge der Schluss nicht nahe, das Ganze gleich durch eine heimelige Bücherverbrennung darzustellen?) Die Bilderfreiheit in den wenigen Literatursendungen, die es noch gibt, wäre ein Segen. Reich-Ranicki hat vieles wieder gutgemacht, indem er den Fernsehpreis ablehnte.

Fazit: Es gibt einen hoch beachtlichen österreichischen Roman, ausgezeichnete Romane der verschiedensten Genres. Was zurückgeht, ist der unverwechselbare Ton, das Verschrobene und Verrückte, der Sprachwitz und der schwarze Humor, der doch einmal unsere Stärke war. So wie das ganz Eigene, Individuelle, Verschrobene und Verrückte allgemein aus der Gesellschaft verschwindet. Vielleicht könnte man es zusammenfassen: Die Wirtschaft wird privatisiert, das Private vergesellschaftet. Dagegen müssen wir uns wehren! Thomas Bernhard würde seine Freude daran haben!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2008)

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