Der Komplex der Österreicher

In der Krise steigt die EU-Stimmung. Was zuvor Grund der Ablehnung war, ist nun Grund der Sehnsucht: Das tiefe Gefühl, klein zu sein.

Gemeinsam statt einsam.“ Dieser Slogan hat die Österreicher schon einmal überzeugt. Doch der damalige Kopf der Kampagne für die EU-Volksabstimmung, Mariusz Demner, hat den Spruch wohl nicht aus heiterem Himmel erfunden. Er zielte vielmehr genau in die österreichische Seele. Es ist die Seele eines Landes, das sich immer klein gefühlt hat. Was Demner allerdings nicht geahnt hat, war, dass sich diese Stimmung rasch ins Gegenteil kehren würde. Denn das Gefühl der Kleinheit löste sich durch den EU-Beitritt nicht auf. Ganz im Gegenteil: Es wurde bestätigt. Ob Transitvertrag oder Sanktionen, die Österreicher fühlten sich in der EU ohnmächtig und von den großen Mitgliedstaaten ständig „überfahren“.

Nun dreht sich die Stimmung wieder um. Übrigens stärker als in jedem anderen EU-Land. Weil die Österreicher die Auswirkungen der Krise fürchten, drängen sie laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage unter den Schutzschirm der Union. Der Slogan „Gemeinsam statt einsam“ trifft heute erneut ihre Seelenlage. Nur mithilfe der großen EU, so glauben sie, könnten die schweren Stürme der Globalisierung bewältigt werden.

Jene, die jetzt über die verbesserte EU-Stimmung jubeln, sollten also vorsichtig sein. Die Ursache liegt nicht etwa in der plötzlichen Erkenntnis, dass die Gemeinschaft doch Vorteile bringe. Der Wandel ist vielmehr in einem tiefen nationalen Komplex begründet. (Bericht: S. 6)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2008)

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