Bloß Fortschrittchen im Schulwesen

Eine Gesamtschule ist nur unter radikal geänderten Bedingungen denkbar, sonst ist Scheitern programmiert.

Neues Jahr, eine (fast) neue Regierung, neue Chancen. Auch wenn jetzt alle starr vor Angst auf die Wirtschaft schauen, schadet ein Blick auf die Schulen in Österreich nicht. Wir werden in Zukunft nämlich weniger mit Werkbänken als mit Köpfen reüssieren. Wenn Österreich Innovationsstandort sein will, braucht es dafür ein starkes Bildungssystem.

In der Ursachenanalyse, woran dieses krankt, sind wir gar nicht so schlecht. Seit dem Pisa-Schock 2003 wird darüber diskutiert – und diskutiert und diskutiert... Was haben sich darüber nicht schon Expertenkommissionen den Kopf zerbrochen! Bisherige Fortschrittchen? Unterrichtsministerin Claudia Schmied installierte mit großen Schwierigkeiten den Schulversuch „Neue Mittelschule“, um den sich alle Hauptschulen (aber kaum Gymnasien) reißen, weil das für sie ein „Upgrading“ im Ansehen, mehr Ressourcen und mehr Personal bedeutet. Die Bildungsstandards werden gerade eingeführt – aber so halbherzig und so anonym, dass sich daraus weder schulintern noch extern Schlüsse ziehen lassen. Die Pädagogischen Akademien wurden in Hochschulen umgewandelt, statt die Lehrerausbildung einheitlich (und im Modulsystem) an den Unis zu konzentrieren. Und es gibt eine neue Bildungsforschungseinrichtung.

Das alles löst noch nicht das Hauptproblem: Österreich hat im internationalen Vergleich ein veritables Defizit in Sachen Chancengleichheit. In einem Zuwandererland, wie wir es sind, ist das besonders schmerzhaft, weil mangelnde Integration – und das sind in erster Linie Bildungsdefizite – hohe Sozialkosten nach sich zieht. Das bedeutet Arbeitslosigkeit, Sicherheitsprobleme, vielleicht irgendwann Jugendkrawalle wie in Athen oder Paris.

Muss also nur die Gesamtschule eingeführt werden, und alles wird gut? Alles wird schlechter, unken die Anhänger eines differenzierten Schulsystems, weil sie mit der jetzt herrschenden sozialen Selektion durchaus zufrieden sind. Oberschichtfamilien schleppen selbst das unbegabteste Kind irgendwie zur Matura. Der „Rest“ soll schauen, wo er bleibt.

Umgekehrt glauben die Anhänger einer Gesamtschule, man müsse das Modell nur einführen, und die Schwachen würden besser, die Starken nicht schlechter, die Welt sozialer, und jeder kriege die Matura nachgeschmissen. Natürlich ist das gefährlicher Unsinn. Denn schon jetzt flüchtet der städtische Mittelstand vor schlechten Gesamtschulen, in diesem Fall den AHS, in teure Privatschulen, von denen man ein höheres Niveau erwartet. Dort bleibt man unter sich, und die Nachmittagsbetreuung funktioniert im Gegensatz zum öffentlichen Schulwesen auch noch.

Wer mit denselben Lehrern mit denselben Verträgen, in denselben Schulgebäuden zu denselben Bedingungen ohne Überlegungen über ernsthafte Leistungsziele eine Gesamtschule einführt, wird das Schulwesen ruinieren und auch die untere Mittelschicht zur Flucht in die Privatschule bewegen. Brutal gesprochen wollen nämlich auch die eingebürgerten Serben ihre Kinder nicht mit den „Türkenbuben“ in dieselbe Schule gehen lassen.

Aber natürlich können wir jene Migrantenfamilien, die mit Integrationsproblemen kämpfen, nicht einfach ignorieren. Sie sind da, sie werden nicht mehr in die alte Heimat ihrer Eltern und Großeltern gehen, und sie werden hier gebraucht. Das müssen wir ihnen erstens vermitteln und zweitens auch überlegen, wie Schüler mit Defiziten – wozu selbstverständlich auch Österreicher aus benachteiligten Familien zählen – in Zukunft besser gefördert werden könnten.

Das kann nur in (auch baulich darauf eingerichteten) ganztägigen (Gesamt-)Schulen gelingen, in denen zum Beispiel die Tage vor den diversen Ferien nicht mit DVD-Schauen totgeschlagen werden, sondern mit schulinterner Nachhilfe für Schwächere. Für diesen Job braucht's starke Lehrerpersönlichkeiten (mit höherer Anwesenheit am Arbeitsplatz, aber auch besserem Image in der Gesellschaft), mehr Sozialarbeit an Schulen in Problemvierteln und ein höheres Augenmerk auf die Ergebnisse des Schulwesens. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass in vielen (städtischen) Volks- und Hauptschulen die Bildungsziele längst nicht mehr erreicht werden, die Noten kaum ernst zu nehmen sind und Firmen daher auch wenig Lust auf Lehrlinge haben, von denen man nicht annehmen kann, dass sie des Lesens und des Schreibens mächtig sind. Das nächste Konjunkturpaket muss ein Schulpaket sein.

Analphabetismus Seite 1
Interview Johanna Rachinger Seite 2


martina.salomon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2008)

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