Märklin-Insolvenz: Endstation eines Kindertraums

150 Jahre lang hat Märklin mit seinen detailgetreuen Modelleisenbahnen junge und alte Kinder begeistert. Diese Woche hat das deutsche Traditionsunternehmen Insolvenz angemeldet.

Mein großer Bruder hatte eine. Auf der Innenseite eines ausklappbaren Kastens in seinem Zimmer war ein gut drei Meter langes Schienenoval montiert, auf dem sie ihre Runden ziehen konnte: mit Personen- und Güterwaggons, angeführt von Elektro- oder Dampflokomotiven, vorbei an Miniaturen von Bahnhofgebäuden und Stadthäusern mit detailreich verzierten Fassaden.

Bei jenen viel zu seltenen Anlässen, bei denen ich mit seiner Märklin-Eisenbahn spielen, die Metallzüge aus den liebevoll versiegelten Schachteln nehmen, sie vorsichtig auf die Schienen setzen und die Ampelschaltungen bedienen durfte, übte sie – es war Ende der Achtzigerjahre – jenen Zauber auf mich aus, den sie auf praktisch alle Kinder entfalten konnte. Vielleicht ist die Erinnerung inzwischen nostalgisch verklärt, aber so falsch dürfte das Bild der leuchtenden Kinderaugen, das man gemeinhin mit Modelleisenbahnen assoziiert, wohl nicht sein: Die metallenen Riesen, seit jeher Sinnbild der Kraft menschlichen Innovationsgeistes, zumindest in der Miniatur selbst steuern zu können und die totale Kontrolle über ein komplexes Reich aus Weichen, Ampeln, Schranken zu haben übt auf Kinder, deren Gestaltungsspielraum in der Realität noch gering ist, eine große Faszination aus. Denn in der Modellwelt stehen alle Räder still, wenn der (auch noch nicht so starke) Arm am Trafo, der die Spannung im System und damit die Geschwindigkeit der Modellzüge kontrolliert, es will.

Ein Gedanke, der auch Erwachsene fasziniert: Älteren Semestern unter den Modelleisenbahnern wird oft ein gewisser Kontrollfetischismus nachgesagt – ein Bedürfnis, alle Vorgänge in ihrer kleinen Kunstwelt bis ins letzte Detail kontrollieren und regeln zu können. Tatsächlich lässt sich die Freude, die Erwachsene an Modelleisenbahnen empfinden, vor allem mit der Begeisterung für komplexe Uhren vergleichen. Modellbau-Veteranen, die in ihren Dachböden und Hobbyräumen ganze Landschaften schienenmäßig erschlossen haben, erzählen mit verklärtem Blick von der Schwierigkeit, parallel fahrende Züge mit einem „Fahrplan“ zu verknüpfen, sodass sie nicht kollidieren, von der Schönheit, wenn Personenzüge Güterzüge überholen – „die haben doch immer Vorrang“ –, und von der Entspannung, die ausbricht, wenn sie inmitten Hunderter leise summender Märklin-Waggons stehen, abgestimmt aufeinander wie ein perfekt geeichtes Uhrwerk. 2000 Euro im Jahr lässt sich ein durchschnittlicher Modelleisenbahner das Hobby kosten.

Aber jetzt ist das Uhrwerk aus dem Takt geraten: Am Mittwoch, just zur Eröffnung der Nürnberger Spielwarenmesse, hat Märklin Insolvenz angemeldet. Wenige Minuten nachdem die Geschäftsführung des deutschen Traditionsbetriebs die Hiobsbotschaft publik gemacht hatte, gab die engagierte Werbeagentur noch die Meldung aus, das Unternehmen sei „auf Erfolgsschiene unterwegs ins Jubiläumsjahr“ – das Ende kam für sie überraschend, gänzlich unvermittelt.

Vor genau 150 Jahren, 1859, hatte Theodor Friedrich Wilhelm Märklin seine „Fabrik feiner Metallspielwaren“ in Göppingen, einer 50.000 Einwohner zählenden Stadt im deutschen Baden-Württemberg nahe Stuttgart, eröffnet. 1891 stellten seine Söhne eine von einem Uhrwerk angetriebene Modellbahn vor und legten damit den Grundstein zum Erfolg des Unternehmens. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Märklin zum Weltmarktführer bei der Herstellung maßstabsgetreuer Modelleisenbahnen auf, das von den Göppingern entwickelte Schienenformat „H0“ – die 16,5 Millimeter Spurweite entsprechen einem Maßstab von 1 zu 87 – wurde zum Standard bei elektrischen Tischeisenbahnen. Märklin war auch das erste Unternehmen, das serienmäßig Computertechnologie für die Steuerung der Modelleisenbahnen verwendete.

Mit dem Aufstieg der Computertechnik im Alltag – und damit auch in den Kinderzimmern – begann aber auch der Abstieg der Modelleisenbahnen. Computerspiele boten nicht nur ein umfassenderes Spielerlebnis – zur ansehnlichen Animation der Züge kam etwa in Sid Meiers Railroad-Tycoon-Reihe eine handfeste Wirtschaftssimulation, bei der die Spieler ein ganzes Eisenbahnimperium zu leiten hatten –, sondern auch noch wesentlich geringeren Zeit- und Kostenaufwand.

Angestachelt durch die Begeisterung zahlungskräftiger erwachsener Modelleisenbahn-Fanatiker, die immer mehr Details und vielfältigere Waggontypen forderten, nahmen die Produkte von Märklin und seinen Mitbewerbern hingegen immer komplexere Züge an. Parallel stieg auch der Preis: 30 Euro für einen Waggon, das leistete sich kaum noch jemand als Kinderspielzeug. Die Folge: Vor allem bei der Gruppe der über zehnjährigen Kinder, die für die technisch aufwendigen Modelleisenbahnen besonders relevant war, verlor Märklin massiv an Boden. Die als wesentlich attraktiver empfundenen Computer füllten auch das Bedürfnis nach technisch komplexerem Spielzeug – da halfen auch auf diese Zielgruppe abgestimmte Marketingaktionen wie der Nachbau von Harry Potters „Hogwarts-Express“ nichts mehr.

Versunken in der Schuldenspirale

2006 stand Märklin dann vor dem Aus. Gerettet werden konnte das Traditionsunternehmen damals nur mehr von den Finanzinvestoren Kingsbridge Capital und Goldman Sachs, die die Familieneigentümer ablösten und einen strammen Konsolidierungsplan fuhren – inklusive der Entlassung von 300 der 1400 Mitarbeiter. Seither kam das Unternehmen nicht mehr zur Ruhe: Sechs Geschäftsführer hat das Unternehmen in den vergangenen zwei Jahren verschlissen, mehrere Strategiewechsel – inklusive der Übernahme des Konkurrenten Lehmann – und Beratungskosten, die mit kolportierten 13Millionen Euro mehr als zehn Prozent des Umsatzes von 2007 (126 Millionen Euro) ausgemacht haben, zogen das Unternehmen weiter in die Schuldenspirale – obwohl der Umsatz 2008 noch einmal um zwei Millionen Euro gestiegen war.

Am Mittwoch schoben die Banken dann den Riegel vor: Lokale Banken verweigerten die Verlängerung eines Kredits an Märklin in der Höhe von 50 Millionen Euro, die Konten wurden eingefroren. Ob das eine Folge der Finanzkrise ist oder ob die Banken keine Zukunft für den Modellbauer sehen, ist umstritten. Die Marke Märklin dürfte eine Zukunft haben: Der Insolvenzverwalter des Unternehmens sagte anlässlich der Spielwarenmesse: „Es geht weiter“ – der Markt verlange nach Märklin. Düster sieht es aber für die Produktion der Modelle in Deutschland aus: Die 650 Göppinger Mitarbeiter, die die Eisenbahnen bisher teils in Handarbeit hergestellt haben, sind zu einem Kostenproblem geworden – die Konkurrenz produziert billiger in Fernost.

Und was wurde aus der Modelleisenbahn meines Bruders? Irgendwann ging der Schlüssel für den Kasten mit den Schienen verloren, gleichzeitig hielten die Computer in unserem Haus Einzug. Seither waren die digitalen Baukästen von Civilization, Transport Tycoon und Sim City interessanter. Die Märklin lagert heute wahrscheinlich immer noch in ihrem Kasten – auf dem Abstellgleis. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2009)

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