Die Jagd nach dem Todfeind

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Der Ablauf der Operation „Neptune's Spear“ und die Tötung von Osama Bin Laden.

In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011, exakt neun Jahre, sieben Monate und 21 Tage nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 richtet ein Soldat der amerikanischen Eliteeinheit US Navy SEAL Team Six das Visier seines Sturmgewehrs auf jenen Mann, der in Militär- und Geheimdienstkreisen den Codenamen „Crankshaw“ trägt. Der Rest der Welt kennt ihn als Osama Bin Laden. Die Operation „Neptune's Spear“, geleitet vom US-Geheimdienst CIA und durchgeführt von einer Marineeinheit, die Neptuns Dreizack als Zeichen besonderer Qualifikation tragen darf, hat damit ihr Ziel erreicht. Osama Bin Laden wird getötet.

Der Ablauf der Ereignisse ist nicht mit letzter Präzision zu rekonstruieren, offizielle Statements aus der Administration sind teils verwirrend widersprüchlich, teils wegen der Geheimhaltungspflicht unzureichend. Hält man sich an den Bericht der pakistanischen Untersuchungskommission, an die Recherchen der investigativen Journalisten Peter L. Bergen, Mark Bowden, Nicholas Schmiedle, die Erinnerungen des Soldaten „Mark Owen“ und die Auskünfte von Regierungsstellen, ergibt sich folgender Ablauf der Ereignisse (Bergen 2012; Bowden 2012; Al Jazeera 2013; Schmiedle 2011; Owen 2012).

23.00 Uhr, 1. Mai 2011 US-Stützpunkt Jalalabad in Afghanistan. Die Operation beginnt. Ziel ist es mit zwei Stealth-Hawk-Hubschraubern unbemerkt in den pakistanischen Luftraum einzudringen, die 120 km von der afghanisch-pakistanischen Grenze gelegene Kleinstadt Abbottabad zu erreichen, dort das Gebäude, in dem Osama Bin Laden vermutet wird, zu besetzen und den Terroristen je nach Gegenwehr gefangen zu nehmen oder zu töten. Die Einsatzkräfte stellt das „Joint Special Operations Command“ (JSOC), ein teilstreitkräfteübergreifendes operatives Führungskommando. Zum Einsatz kommen 23 Spezialkräftesoldaten, Angehörige der DEVGRU („Naval Special Warfare Development Group“), Elitesoldaten , die besser bekannt sind unter ihrem Namen US Navy SEAL Team Six, des Weiteren ein Dolmetscher sowie ein Hund namens Cairo. Zwei zusätzliche Transporthubschrauber der Marke Chinook stehen für Notfälle und Treibstoffersatz in der Grenzregion bereit. Der Aktionsplan: Helikopter 1 setzt über dem Garten des Anwesens 12 SEALS an Seilen ab. Sie sollen in das Haupthaus eindringen. Helikopter 2 setzt vier SEALS, den Dolmetscher und den Hund ab, um die Umgebung zu überwachen und Anrainer zurückzudrängen, die restlichen sieben SEALS werden wieder über Seile auf dem Flachdach des Gebäudes abgesetzt, sie dringen von oben ein.

Wegen der Zeitverschiebung um 30 Minuten zwischen Afghanistan und Pakistan ist es beim Start der Operation in Abbottabad bereits 23.30, Osama Bin Laden, seine Familie und seine Gefolgschaft sind bereits zu Bett gegangen. Vorübergehend fällt der Strom in dem Stadtviertel aus, eine CIA-Aktion, um den mit Nachtsichtgeräten ausgerüsteten SEALS einen Vorteil zu verschaffen.

Das Gebäude im pakistanischen Abbottabad, in dem Osama bin Laden mit seiner Familie lebte.
Das Gebäude im pakistanischen Abbottabad, in dem Osama bin Laden mit seiner Familie lebte.

0.58 (pakistanische Zeit), 2. Mai Abbottabad. Nur der erste Teil der Operation verläuft nach Plan: Binnen knapp 90 Minuten erreichen die Black Hawk Helikopter, die teils in extremem Tiefflug mit großer Geschwindigkeit unterwegs sind, ihr Ziel. Es gibt keine pakistanische Reaktion auf die Luftraumverletzung. Die erste präzise Zeitangabe haben wir von einem schlaflosen Bürger der Stadt Abbottabad. Twitter-User Sohaib Athar vernimmt den Lärm von Hubschraubern und tweetet um 0.58: „Helicopter hovering above Abbottabad at 1 AM (is a rare event).“ Das Gebiet ist militärisches Sperrgebiet.

01.00 (in Pakistan), 16.00 (in Washington). Helikopter 1 kann über dem Anwesen nicht wie geplant im Schwebeflug gehalten werden, sondern gerät in Turbulenzen. Die Gründe: Der Anflug war über einem Grundstück mit Drahtzäunen und bei niedrigerer Temperatur geprobt worden, hier jedoch ist durch Mauern und den durch die Sonne aufgeheizten Boden die Temperatur höher als erwartet. Der Helikopter sinkt daher ab. Der Pilot entscheidet sich zur ungeplanten Landung bei einem Tiergehege im Westteil des Anwesens, dabei berührt er mit dem Heck die Mauer und bleibt in einer Schräglage von 45 Grad liegen, ohne sich zu überschlagen. Er setzt einen Notruf ab und löst damit umgehend den Start eines der beiden Chinook-Hubschrauber für Notfälle aus.

Helikopter 2 sieht das, riskiert nicht dasselbe Manöver und weicht vom Plan ab, landet auf einem Feld nördlich des Gebäudes. Normalerweise bedeutet ein Beinahe-Crash eines Helikopters den Abbruch einer Operation. Doch die unverletzten SEALS sammeln sich und agieren mit der Professionalität und Störungstoleranz, für die sie berühmt sind: Sie improvisieren und setzen den Auftrag fort. Kurz nach 1 Uhr ist noch kein Soldat im Haupthaus. Mehrere Sprengladungen verschaffen dann den Zugang zum inneren Bereich. Bewohner von Abbotabbad melden um 1.09 explosionsartigen Knall. Kronzeuge ist wieder Sohaib Athar, jetzt wirkt er bereits besorgter: „A huge window shaking bang here in Abbottabad Cantt. I hope it's not the start of something nasty.“

Jetzt sind natürlich auch alle Bewohner des Hauses wach, zumal Schüsse zu hören sind, zwei bewaffnete Gefolgsleute von Bin Laden werden getötet. Die Soldaten dringen nun ins Erdgeschoss ein. Sie haben keinerlei Kenntnis vom Gebäudeinneren, müssen daher instinktiv handeln. Der Dolmetscher beruhigt vor dem Haus die aufgeregten Nachbarn. In den nächsten zehn Minuten gelingt es einem Kommando von drei Soldaten, bis in den obersten Stock des Gebäudes vorzudringen. Sie erschießen auf dem Weg dahin Bin Ladens Sohn Khalid.

01.15 (pakistanische Zeit), 16.15 in Washington. Der erste der drei Soldaten sieht durch das Nachtsichtgerät einen großen bärtigen Mann hinter einer Tür im obersten Stock hervorschauen. Seit der Ankunft auf dem Grundstück sind rund 15 Minuten vergangen. Was dann im zweiten Geschoss wirklich passiert ist, ist nicht einfach zu rekonstruieren, die Nachrichtenpolitik der US-Administration macht die Sache nicht leichter. Nach einem Bericht des Pentagon vom 2. Mai Vormittag, habe Bin Laden mit seiner Frau als Schutzschild auf die Soldaten gefeuert. John Brennan stellt am Nachmittag des 2. Mai fest: Die Tötung erfolgte „in einem Feuergefecht“, das die Bewohner des Hauses den Soldaten geliefert hätten. Dagegen Präsidentensprecher Jay Carnay am 3. Mai: Osama Bin Laden sei unbewaffnet gewesen, was aber nicht bedeute, er habe keinen Widerstand geleistet, vielmehr sei es zu „violent scenes“ gekommen, daher sei das Verhalten der Soldaten gerechtfertigt: „on solid ground to kill him.“ In seinem Schlafraum habe man danach Waffen gefunden. Leon Panetta ergänzt am 3. Mai im Interview mit NBC: Die Soldaten hätten den Auftrag gehabt, Osama Bin Laden zu töten, es sei denn, er setze deutliche Signale, sich zu ergeben (NYTimes 2011).

Unter dem Pseudonym „Mark Owen“ veröffentlicht im September 2012 Matt Bissonette, Mitglied der Kommandoeinheit, seine Erinnerungen an die Ereignisse unter dem Titel „No Easy Day“ (Owen 2012). Das Buch erscheint am ominösen 11. September und erobert die Bestsellerlisten, es wirbt damit, einen detailgetreuen Ablauf der Aktion zu liefern. Bissonette wurde wegen Verletzung der Geheimhaltung von offiziellen amerikanischen Stellen heftig attackiert, naturgemäß konnte man aus denselben Gründen nicht auf die Details seiner Darstellung eingehen. Der 36jährige behauptet in dem Buch, unter jenen Soldaten gewesen zu sein, die Bin Ladens Schlafzimmer in dessen Versteck gestürmt haben. Der Ablauf: An der Spitze der Seals, die durch den engen Treppenaufgang in den zweiten Stock gestürmt seien, sei der "Point Man" gewesen, der plötzlich von der Treppe aus zwei Schüsse in Richtung Schlafzimmertür abgibt.

Sekunden später stehen der „Point Man“, er, Bissonette, und ein dritter SEAL in dem Raum, Bin Laden ist bereits tödlich getroffen. Aus nächster Nähe hätten sie mehrmals auf den sich in Todeszuckungen Krümmenden geschossen. Bin Laden habe die ganze Zeit hindurch nicht einmal Gelegenheit gehabt, den US-Soldaten auch nur in die Augen zu schauen, von Schießerei, Kugelhagel oder Ähnlichem könne keine Rede sein, das seien Darstellungen wie aus „einem schlechten Actionfilm“. Ein Mädchen und eine Frau in dem Zimmer bestätigen den Soldaten, dass der Tote Osama Bin Laden sei.

Buchcover
Buchcover

Die Operationszentrale im afghanischen Jalalabad verfolgt indessen den Operationsfortschritt anhand einer „Execution Checklist“, die Liste mit den abgehakten Aktionen wird markiert durch „Prowords“, die beim Abhören des Funkverkehrs für jeden Uneingeweihten unverständlich sind. Die „Prowords“ der Operation „Neptune's Spear“ sind Namen von berühmten amerikanischen Ureinwohnern, für die Phase der Auffindung Osama Bin Ladens war der Buchstabe G „Geronimo“ vorgesehen (also kein Grund für die amerikanischen Ureinwohner, böse auf den US-Präsidenten zu sein, da keine Gleichsetzung der Person des Terroristen mit dem legendären Indianerhäuptling beabsichtigt ist). Die SEALS fotografieren den in die Brust und knapp über dem linken Auge getroffenen Bin Laden und melden den Funkspruch „For God and country - Geronimo, Geronimo, Geronimo“, und dann in der eher gebotenen militärischen Kürze: „Geronimo EKIA“. Das Kürzel steht für „Enemy Killed in Action“, Feind im Kampf getötet.

01.18 (pakistanische Zeit). Die Operation dauert noch 20 Minuten. In dieser Zeit wird der tote Bin Laden in einem Leichensack aus dem Haus transportiert und in den inzwischen eingelangten großen Transporthubschrauber Chinook gebracht. Anhand von Knochenbohrungen werden im Helikopter von einem Sanitäter Proben genommen. Nach einer Hausdurchsuchung werden Computerfestplatten, DVDs, CDs als Beweismittel verladen. Die Frauen Bin Ladens bestätigen nochmals, dass es sich um den Gesuchten handelt. Der havarierte Stealth Hawk Helikopter wird in die Luft gesprengt, die streng geheime Tarnkappentechnologie und die High-Tech-Avionik- und Funkgeräte sollen nicht in fremde Hände fallen. Die Frauen und Kinder auf dem Grundstück werden gefesselt und vor der Explosion in Sicherheit gebracht.

Zeit (USA) Zeit (Pakistan) Das Geschehen
14.30 (1.5.) 23.30 (1.5.) Die Operation „Neptune's Spear“ beginnt von Afghanistan aus
14.30 (1.5.) 23.30 (1.5.) Obama trifft im Situation Room Mitarbeiter zur Vorbesprechung
15.58 (1.5.) 00.58 (2.5.) Nach knapp 90 Minuten Flugzeit erreichen die Soldaten Abbottabad
15.58 (1.5.) 00.58 (2.5.) Ein Bewohner von Abbottabad meldet über Twitter Helikopterlärm
16.00 (1.5.) 1.00 (2.5.) Obama begibt sich in den Situation Room
16.00 (1.5.) 1.00 (2.5.) Einer der Helikopter gerät in Turbulenzen und muss notlanden
16.05 (1.5.) 1.05 (2.5.) Pete Souza macht das berühmt gewordene Foto im Situation Room
16.08 (1.5.) 1.08 (2.5.) In Abbottabad ist Lärm von Sprengungen zu hören
16.15 (1.5.) 01.15 (2.5.) Bin Laden wird aufgegriffen, Übertragungsausfall in Washington
16.25 (1.5.) 01.25 (2.5.) Funkspruch „Geronimo EKIA“ gelangt ins Weiße Haus
16.38 (1.5.) 01.38 (2.5.) Die Operation ist beendet, Abflug von Abbottabad
17.01 (1.5.) 02.01 (2.5.) Obama erhält Nachricht von der Identifizierung der Leiche

01.38 (pakistanische Zeit). Ein Stealth Hawk und ein Chinook Hubschrauber verlassen das Anwesen und kehren zurück nach Afghanistan. Obwohl die Treibstoffreserven des Black Hawk zu Ende sind und er aufgetankt werden muss, gibt es keine Zwischenfälle mehr. Um 3 Uhr wird die erfolgreiche Crew von William McRaven auf dem Flugfeld Jalalabad empfangen, die Identität des Toten wird nochmals überprüft. An Bord des Flugzeugträgers „Carl Vinson“ wird er nach muslimischer Sitte beerdigt, er wird nach einem Totengebet in Richtung Mekka dem Meer übergeben, kein Foto gelangt an die Öffentlichkeit. Am 6. Mai bestätigt das Terrornetzwerk Al Qaida in islamistischen Internetforen zum ersten Mal, dass Osama bin Laden nicht mehr lebt (N24 2011). Die Umstände von Osama Bin Ladens Tod wird die Öffentlichkeit wohl nie genau erfahren. Nach Recherchen der Nachrichtenagentur AP vom Juli 2013 seien alle Unterlagen vom Pentagon an die CIA übergeben worden. Begründung: Der Angriff der Spezialeinheit sei unter dem Befehl von CIA-Chef Leon Panetta durchgeführt worden, außerdem sei es wichtig, die Anonymität der beteiligten Soldaten zu wahren. Die CIA kann es dank besonderer Befugnisse verhindern, dass Unterlagen über Geheimdienstoperationen an die Öffentlichkeit gelangen (AP 2013).

Ausführliche Analysen zu den Hintergrundereignissen und dem Kult-Bild, das Obamas Fotograf Pete Souza im Situation Room des Weißen Hauses gemacht hat, im neuen  Buch von „Presse“ – Historiker Günther Haller

Buchtipp

Aglaja Przyborski Günther Haller (Hrsg.)
Das politische Bild.
Ein Foto – Vier Analysen.
Verlag Barbara Budrich
168 Seiten

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