Bitterer Kern, süße Schale

Jetzt liegt er in der Wiese, der Klarapfel-Baum. Der Stamm war morsch. Keine fünf Zentimeter gesundes Kernholz hatten ihn schließlich noch am Leben gehalten. Fünf Zentimeter mit dünnen, zähen Fasern. Eine Apfelbaum-Geschichte aus der Südoststeiermark.

Er schlug auf. Der dumpfe Ton war kurz, fast bescheiden. Mehr als 90 Jahre war der Apfelbaum in diesem Garten gestanden. Er spendete Schatten unter seiner Krone, die zuletzt schon weit in den Himmel ragte. Er schenkte den Bewohnern der umliegenden Häuser jedes Frühjahr den Duft seiner weißen Blüten, im Sommer den herben Geschmack seiner Äpfel.

Der Klarapfel ist frühreif, schon ab Juli, können seine Früchte geerntet werden. Als der Baum fiel, waren nur noch zwei Äpfel an den Ästen – grüne, gläsern wirkende Kugelherzen. Er hat sich gewehrt, wie ein Lebewesen, das sein Ende nahen sieht. Ein Sturm über dem kleinen steirischen Dorf hatte ihm den großen, nach Süden ragenden Ast genommen. Noch ein paar Monate hielt er die Wunde wie ein hölzernes Schwert in den Himmel. Ich wollte ihn entfernen, weil er völlig zerzaust in der Landschaft stand, aber auch, weil ich von einigen Geschichten wusste, die wie dunkle Jahresringe das lange Leben des Baumes begleitet hatten. Sie sind mir von Nachbarn und Freunden aus der Umgebung erzählt worden.

Der Baum stand an der höchsten Stelle unseres kleinen steirischen Dorfs unweit der Grenze zum Burgenland. Drei Häuser befinden sich heute in diesem großen Garten. Eines im Süden, rund 200 Jahre alt, das andere in der Mitte, 70 Jahre, und das jüngste im Norden, 45 Jahre. Es sind Gemäuer, in denen das Leben voll Freude, Lust und Verzweiflung wütete.

Als der junge Baum vor 90 Jahren in die braune, nahrhafte Erde gesetzt wurde, da stand das älteste Haus noch ganz allein in der Streuobstwiese. Das Auskommen für die Menschen in diesem südöstlichen Winkel des Landes war beschwerlich. In der Zeit der großen Wirtschaftskrise gab es kaum Arbeit, und viele Familien lebten bloß von ihrer eigenen kleinen Landwirtschaft, die meist aus einer Kuh, ein, zwei Schweinen und ein paar Hühnern bestand. Die Familie, die im alten Lehmhaus neben dem Apfelbaum wohnte, war keine Ausnahme. Der Hausherr war ein rauer Mann, der hart arbeitete und seinen Ochsen über den kleinen Acker trieb. Die Kinder, Eltern und Großeltern fanden im kleinen Haus kaum ausreichend Platz zum Schlafen. Zudem reichte der Ertrag der kleinen Landwirtschaft nur in wenigen Jahren aus, um alle satt zu machen. So wurden einige der Kinder, sobald sie größer und kräftiger waren, weggegeben. Sie wurden zu einem der Großbauern unten im Tal oder weiter entfernt in die Obersteiermark geschickt, wo sie hart arbeiten mussten, aber zumindest Essen und einen Platz zum Schlafen bekamen. Einige, wie der Sohn dieses Hauses, kehrten nach Monaten wieder zurück. Andere blieben.

Die Geselligkeit war hier heroben ein Elixier gegen das ständige Abschiednehmen. Nach den Kindern waren es die Ärmsten, die wegwanderten, weil sie hofften, in der fernen Stadt Arbeit zu finden. Es waren die Verwegenen und Verzweifelten, die es noch weiter weg zog, in die Schweiz oder gar nach Amerika. Manche, so heißt es, flohen auch vor den ständigen Streitigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten, die in diesem Grenzgebiet seit Jahrhunderten tobten und noch in der Zwischenkriegszeit einen Spalt zwischen Dörfer und Nachbarn zogen. Zuerst unterdrückten die Katholiken die Evangelischen im Ständestaat von Engelbert Dollfuß. Später schlossen sich die Evangelischen den illegalen nationalsozialistischen Organisationen an. Und als Hitler 1938 an die Macht kam, da rächten sie sich für die Schmach und Ausgrenzungen im Ständestaat. An einem kühlen Sommertag, die Klaräpfel waren eben erst reif geworden, da trieben sie die katholischen Dollfuß-Anhänger durch den Ort bis hinüber zum Gasthaus und verprügelten sie.

Als der Apfelbaum noch von junger Kraft strotzte, da zogen die Männer an die Fronten des Zweiten Weltkriegs. Zuerst war es im Ort fast beschaulich. Mit der Abwesenheit der Männer kehrte eine seltsame Ruhe ein. Frauen, Kinder und Alte halfen einander. Selbst die religiösen Streitigkeiten ebbten ab. Lange war der Krieg weit weg, nur die Erzählungen und Gerüchte waren nah. Erst gegen Ende kam die Gewalt auch in den sanften Hügeln an. Am Himmel tauchten amerikanischen Kampfflugzeuge auf, die Richtung Wiener Neustadt flogen und auf dem Rückweg den Rest ihrer Bomben über dem nahen Wald abwarfen. Nach und nach erhielten die Familien Nachricht von den verstorbenen Söhnen.

Es war ein seltsam warmer Frühling, als Anfang April 1945 der Krieg zu Ende ging. Der Apfelbaum stand bereits in voller Blüte in der Wiese. Mitten in den politischen Wirren dieser Umbruchzeit wuchs eine Schar Kinder heran, die sich noch heute an eigenartige Vorkommnisse erinnert. Da war etwa ein Fallschirmspringer, der sich in die Wirtstochter verliebte. Er soll gelandet, soll über Nacht geblieben sein und hier seine neue Heimat gefunden haben. Niemand wusste später, ob die Geschichten des Dorfwirts wahr waren, sie waren jedenfalls so famos, dass niemand an ihnen zweifeln wollte.

Da war aber auch die Geschichte vom alten Bauer, der ein Maschinengewehr in seinem Garten vergrub. Zu Kriegsende hatte er den Befehl bekommen, die einmarschierenden Russen aufzuhalten. Aber als er sie von der slowenischen Grenze her nahen hörte, da zog er seinen kleinen Trupp ab. Er tauschte die Uniform gegen seine Alltagskleidung und verscharrte sie zusammen mit der Waffe nahe seinem Hofgebäude. Dann, so die Erzählung, habe er auf sein Schicksal gewartet – draußen auf der schattigen Bank vor dem Haus. Ein Nachbar hatte ihn gewarnt, dass auf Desertieren die Todesstrafe stehe. Als der alte Mann die Schritte der nahenden Soldaten hörte, schloss er in Gedanken mit seinem Leben ab. Doch es waren keine Deutschen, die da um die Ecke bogen, sondern Russen, die auf einen jubelnden Bauern stießen. Er umarmte sie, servierte ihnen Most, Essen und Schnaps. Seine Freude war so spontan, so überzeugend, dass sie glauben mussten, er sei Kommunist.

Der Apfelbaum wuchs ungeachtet der Wirren rings um ihn heran. Die Jahre nach dem Krieg waren hart wie jene davor. Wieder gab es von allem zu wenig. Während in den 1950er Jahren in großen Teilen Österreichs langsam der Wohlstand einkehrte, mussten sich die Menschen hier, nahe der Grenze zu Ungarn und Slowenien, noch immer bescheiden. Arbeit gab es weiterhin nur weit weg in den Städten. Die jungen Männer blieben von Montag bis Freitag dort, brachten am Wochenende das Geld für die Familie mit. Sie arbeiteten als Schlosser, Maurer, Tischler, fuhren gemeinsam mit dem Bus und später mit dem eigenen Auto über den Wechsel nach Wien oder über die Laßnitzhöhe nach Graz. Wenn sie gegen Ende der Woche heimkehrten, wartete ein warmes Essen auf sie und manch harte Arbeit am Hof.

Und wieder wuchs ein Dutzend Kinder heran, die sich an dieser höchsten Stelle des Orts, beim Apfelbaum, trafen, um zu spielen oder um nebenan, im mittleren Haus, fernzusehen. Nachdem das Gebäude mit bescheidenen Mitteln errichtet worden war, lebte darin eine Familie, die als erste im Dorf ein eigenes Fernsehgerät besaß. Wer mitschauen wollte, der zahlte einen Schilling für den Strom. Der Hausherr war bei der Bezahlung streng. Kinder, die den Schilling nicht dabei hatten, mussten von daheim das Geld holen, ehe sie bleiben durften.

Ein wenig Wohlstand kam ins Dorf. Im mittleren Haus wurde nicht nur ferngesehen, sondern auch Schnaps gebrannt – ein scharfer Obstler. Dann saß der Hausherr an einem kleinen Tisch stundenlang neben der Brennanlage und hörte dem Tropfen der destillierten Flüssigkeit zu. Freunde und Nachbarn kamen, vertrieben ihm mit Kartenspielen die langen Stunden.

Es liegt in der Natur der Menschen, dass keine Zufriedenheit lange dauert. Der Hausherr wurde immer unruhiger und mürrischer. Er stritt mit seiner Familie, fühlte sich von seiner Frau hintergangen. Und wenn er zu viel getrunken hatte und zu eifersüchtig war, trieb er Unsinn. Nicht nur einmal knüpfte er einen Strick an den Apfelbaum und drohte, sich das Leben zu nehmen. Meist ging der Spuk vorbei, doch einmal hing der Alte tatsächlich am Baum.

Im mittleren Haus, nahe dem Apfelbaum, war auch der Karl aufgewachsen. Er brach schon in jungen Jahren in die Schweiz auf. In der Ferne fand der gelernte Maurer Arbeit und auch eine Frau. Jahre nachdem sich sein Vater am Baum erhängt hatte, zog es ihn zurück. Und um der Familie ein eigenes Dach zu bieten, baute er mit dem Geld aus der Schweiz und den eigenen Händen neben seinem Elternhaus ein neues, kleines Einfamilienhaus mit Garage und Balkon: das dritte Haus im großen Apfelgarten. Doch seine Frau ging eines Tages mit der gemeinsamen Tochter wieder zurück in die Schweiz. Auch seine Mutter starb. Und der Karl pflegte von nun an den Garten mit dem schicksalshaften Apfelbaum allein.

Heitere und schwere Zeiten wechselten wie das Wetter, das hier im Grenzgebiet so viel Sonne bietet wie im ganzen Land nicht. Die Wärme lässt das Obst saftig und süß werden. Deshalb wurden die Hügel ab den 1970er-Jahren nach und nach in Apfelplantagen verwandelt. Endlich schien sich die Landwirtschaft ein wenig zu lohnen. Das warme Wetter bringt aber auch heftige Gewitter. Einmal, da schlug der Blitz wenige Meter neben dem Apfelbaum in das alte Kellerstöckl ein. Der Dachstuhl wäre um ein Haar abgebrannt, hätten ihn die Männer des Dorfs nicht rasch gelöscht. Der Feuerwehrhauptmann Josef half mit. Und als der Brand aus war, lud er alle zu sich in die alte Stube mit dem blau gekachelten Herdofen ein. „Häuser können repariert werden, Seelen getröstet“, sagte er und erhob das Glas.

In den 1980er- und 1990er-Jahre wurde es langsam still im Ort. Viele junge Familien waren weggezogen, Kinder gab es immer weniger. Die Älteren dominierten das Ortsbild. Auch der Karl war dabei, längst Pensionist. Am liebsten ging er hinüber zum Werner, dem Apfelbauern, der einen ausgezeichneten Uhudler herstellte. Im selben Kellerstöckl nahe der Straße tranken sie dann einige Gläser von diesem wilden, beerigen Wein. Karl half bei seinem Freund mit, die angefaulten Äpfel von den Bäumen zu stechen. Werner hatte stets sein Radiogerät dabei, das hängte er an einen der Äste und ließ es laut den Burgenlandsender spielen. „Endlich hat der Karl wieder gelacht“, erinnern sich Nachbarn. Die Geselligkeit tat ihm gut.

Einmal im Winter waren die Äste des Apfelbaums von glitzerndem Eis überzogen. „Jetzt ist der Karl a gångan“, sagte der Werner an diesem Tages zu mir, dem damals neu angekommenen Nachbarn. Und als ich dümmlich fragte: „Wohin?“, schüttelte er nur ärgerlich den Kopf und zeigte hinauf in den Himmel. Der Karl ist gestorben. Mit ihm ging eine Familiengeschichte zu Ende, die von Hoffnung und Freude ebenso reich war wie von Armut, Last und Verzweiflung. Von nun an durfte ich hie und da in seinem Keller den Uhudler verkosten. Wenn der Alltag einmal trüber war, tat seine Geselligkeit gut.

Der Baum mit den Klaräpfeln liegt jetzt in der Wiese. Der Stamm war morsch. Keine fünf Zentimeter gesundes Kernholz hatten ihn schließlich noch am Leben gehalten. Fünf Zentimeter mit dünnen, zähen Fasern. Die Verbindung zwischen Erde und Krone – sie ist abgerissen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2014)

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