Das Hormon aus der Sonne

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Im Winter wird es rar: Vitamin D ist vielseitiger, als man lang dachte. So fördert es auch das Immunsystem und die Produktion von Testosteron.

„Lebertran, guter, fetter, dickflüssiger Dorschlebertran, der aus einem Porzellanlöffel zweimal täglich zu nehmen war“, das wird zu seinem großen Unbehagen Hanno Buddenbrook verordnet. Doktor Langhals will damit, so steht es in Thomas Manns „Buddenbrooks“, eine „Unzuträglichkeit“ steuern, nämlich „dass der Organismus des Kleinen leider die so wichtigen roten Blutkörperchen in nicht genügender Anzahl produzierte“.

Hier ist dem sonst wissenschaftlich so gut informierten Thomas Mann eine falsche Verschreibung passiert: Eisen, das gegen Blutarmut gut wäre, ist nur wenig im Lebertran. Dafür die Vitamine E, A und D. Schon 1824 entdeckten Wissenschaftler, dass der tranige Trank gegen die knochenerweichende Rachitis hilft, die Folge von Mangel an Vitamin D. Doch erst 1922 publizierte der britische Chemiker Elmer McCollum eine „experimental demonstration of the existence of a vitamin which promotes calcium deposition“. Er nannte es D, weil es A, B und C schon gab. Isoliert wurde es Jahre später in Deutschland, die Firmen Merck und IG Farben verkauften ab 1927 das Medikament Vigantol, mit Schokolade überzogen, damit die Kinder es auch gern aßen.


In der Haut erzeugt. Abgesehen davon, dass man eigentlich zwischen D1, D2, D3, D4 und D5 unterscheiden müsste, ist Vitamin D ein seltsames Vitamin. Schon weil es streng gesehen gar keines ist, sondern ein Hormon: Die meisten Wirbeltiere und auch der Mensch können es selbst herstellen. Aber es braucht dafür Sonne: Ihr ultraviolettes Licht erzeugt in der Haut Vitamin D3 aus 7-Dehydrocholesterin, das ist ein Molekül, das dem jedem Ernährungsratgeber bekannten Cholesterin nahesteht. Verwandt ist es auch mit den Sexualhormonen und den Gallensäuren. Steroide nennt man diese Moleküle. Sie haben eine typische Struktur mit vier Ringen, beim Vitamin D hat das UV-Licht einen Ring aufgesprengt (siehe Formel).

Wieso müssen oder sollen wir dennoch Vitamin D mit der Nahrung aufnehmen? Weil wir nicht genug Sonne bekommen. Vor allem nicht im Winter, und wenn wir im trüben Norden wohnen. In Afrika, wo der Mensch herkommt, scheint meist genug Sonne für die Vitamin-D-Synthese. Auch wenn man dunkle Haut hat, die das UV-Licht nicht so gut eindringen lässt.

Das ist ein Grund dafür, dass Menschen, die aus Afrika in den Norden gewandert sind, dort im Lauf der Jahrtausende blasser wurden: Helle Haut ist ein Vorteil, wenn das Sonnenlicht für die Vitamin-D-Synthese knapp ist. Sie hat aber auch einen Nachteil, was ein anderes Vitamin anbelangt: Folsäure. UV-Strahlung fördert nämlich deren Abbau, Hautpigmente schützen sie. Eine heikle Balance zwischen zwei Vitaminen, die zur Vielfalt an menschlichen Hautfarben beigetragen hat.

Noch vor 20 Jahren las man in einem Biochemielehrbuch (Voet/Voet) eine negative Interpretation des Zusammenhangs: Die starke Pigmentierung der Menschen in Äquatornähe diene dazu, „überschüssige Sonnenstrahlung auszufiltern und so eine Vitamin-D-Vergiftung zu verhindern“. Vor einer solchen wird heute nur selten gewarnt. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren häufen sich wissenschaftliche Arbeiten, die dem Vitamin D erstaunlichen Einfluss attestieren. Es beeinflusst weit mehr als den Kalziumstoffwechsel der Knochen. Etwa auch das Immunsystem. So senkt es das Risiko von Allergien und Autoimmunkrankheiten.

„Vitamin D reguliert drei Prozent unseres Genoms“, sagt Barbara Obermayer-Pietsch von der Universitätsklinik für Innere Medizin in Graz: „Es ist ein pleiotropes Hormon, ein Hormon mit vielfältigen Funktionen.“ Ihr Team misst seit Jahren Vitamin-D-Konzentrationen im Blut: „Im Winter haben 60 bis 70 Prozent der Menschen einen Mangel. Ganz schlimm ist es bei Älteren, die kaum an die frische Luft kommen, und bei Kindern, nachdem die Eltern aufgehört haben, ihnen Vitamin D zu geben. Doch mein ärgster Fall war ein dunkel pigmentierter Plakatierer aus Gabun, der in der Nacht arbeitete und am Tag schlief: Er litt unter starken Schmerzen. Man hatte ihn schon auf Herzinfarkt und Speiseröhrenverengung untersucht, bevor wir seinen katastrophal niedrigen Vitamin-D-Wert maßen. Klarer Fall von schwerster Rachitis mit Knochenschmerzen im Brustbein.“

Großen Einfluss hat Vitamin D auch auf den Hormonhaushalt, vor allem auf das männliche Sexualhormon Testosteron. Daniela Hofer aus der Arbeitsgruppe von Obermayer-Pietsch, konnte unlängst in einer im „Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism“ erschienenen Arbeit zeigen, dass es – von Organspendern gewonnene – Hodenzellen zur verstärkten Testosteron-Produktion anregt.

Entsprechend ändern sich die Blutspiegel von Vitamin D und Testosteron parallel im Rhythmus der Jahreszeiten: Im Sommer sind beide hoch, im Winter beide niedrig. Das könnte einen biologischen Effekt, ja, Sinn haben: dass im Sommer gezeugte Kinder im folgenden Frühling geboren werden, wenn die Ernährungslage gut ist.

Wie Vitamin D in einem Individuum wirkt und wie hoch sein Spiegel werden kann, das wird freilich auch von genetischen Faktoren beeinflusst. Darauf beruht eine Studie an 96.000 Dänen: Genvarianten, die Vitamin-D-Mangel begünstigen, sind mit einer um 30 Prozent erhöhten Sterblichkeitsrate verbunden. Allerdings beweist das noch keinen kausalen Zusammenhang.

Dass aber sehr niedrige Spiegel korrigiert werden sollten, ergab eine weitere Grazer Arbeit an Kranken in Intensivstationen: Von den Patienten mit schwerem Vitamin-D-Mangel starben nach einer Behandlung mit Vitamin D um 44 Prozent weniger als in einer Vergleichsgruppe. Bei normalen Spiegeln zeigte sich kein Vorteil. „Überhöhte Spiegel sind ebenso ungesund wie sehr niedrige“, sagt Obermayer-Pietsch, „der Idealbereich liegt bei 30 bis 40 Nanogramm pro Milliliter.“ So empfehlen auch Ärzte, die das Geschäft mit Vitaminpillen sonst als Scharlatanerie sehen, eine Supplementierung mit Vitamin D – in Risikogruppen (wie Altersheimbewohnern) oder nach einem Bluttest, der einen Mangel ergibt. Wer keine Pillen schlucken will und Lebertran grauslich findet, kann auf jeden Fall im Winter viel Lachs und Makrele essen: In fettem Fisch ist viel Vitamin D, deutlich weniger in Fleisch und Milch.

Aber auch in Pflanzen, besonders viel in mit UV-Licht bestrahlten Champignons. Und in Plankton: Die kleinen Meeresorganismen schützen ihre DNA vor der UV-Strahlung, indem sie diese zur Erzeugung von Vitamin D verwenden. Das ist wohl die älteste biologische Rolle dieses vielseitigen Moleküls.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2014)

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