"Moulin Rouge": Im Rausch der Rüschen

Le Moulin Rouge
Le Moulin Rouge (c) imago/PanoramiC
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Zur Finissage der Wiener Toulouse-Lautrec-Ausstellung: Eine Zeitreise auf den Montmartre vor 125 Jahren, dem Gründungsjahr des „Moulin Rouge“.

Belle Époque. Kaum eine Zeit evoziert so viele klischeehafte Assoziationen und nostalgische Verklärung wie die Jahrzehnte in Paris vor 1900: Man denkt an die französische Großbourgeoisie und den Hochadel, Damen und Dandys, überaus vielbeschäftigt mit Nichtstun, Künstler, die dank der Gunst reicher Mäzene Muße haben, sich auf Landpartien mit ihren schönen Geliebten und Modellen zu umgeben, die sonnenbeschienenen Landschaften der Impressionisten, schließlich den Freiraum der Boheme, den Schmelztiegel Montmartre mit seinen Tanzlokalen und Variétés, eine zwanglose Öffentlichkeit, wo sich Adel und arriviertes Bürgertum gemein machen mit halbseidenen Tinteltangel-Stars und Prostituierten und sich gesellschaftliche Konventionen auflösen. Wo sind bei diesem Mythos der Mondänität überhaupt noch Fakten und Fiktion zu trennen? Wann begann überhaupt die Belle Époque? Man sagt: als nach einer überhitzten Phase der französischen Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts sagenhafte Reichtümer angehäuft wurden, die es nun zu verprassen galt. Doch die Zeitgenossen wussten nichts von einer Epoche dieses Namens, der Begriff wurde erst im Nachhinein geprägt, als der Erste Weltkrieg den Verlust dieses Lebensgefühls spürbar machte und man die Zeit davor zu verklären begann.

Eintauchen und versinken – ein Ort des Eskapismus

In einer solchen Atmosphäre eröffnete am Sonntag, den 6. Oktober 1889, um 20 Uhr, das „Moulin Rouge“ seine Tore. Nicht nur das Jahr war gut gewählt - 1889 war wegen der Weltausstellung in Paris mit einem hohen Aufkommen von Touristen zu rechnen – sondern auch der Ort: Wie die anderen Vergnügungslokale lag das „Moulin Rouge“ nicht oben auf der Butte Montmartre, sondern unten, an der Nahtstelle zwischen der Hauptstadt und dem auf dem Hügel gelegenen Dorf. Wie in Kaiser Franz Josephs Reichshauptstadt Wien war auch in Paris um 1860 die Eingemeindung der Vorstädte erfolgt und die Stadtmauern mit ihren alten Zollhäusern geschleift worden. Der Montmartre wurde zum 18. Arrondissement erklärt. Die neu entstehenden Boulevards – am Montmartre der Boulevard de Clichy und der Boulevard de Rochechouart östlich davon - waren die Hauptschlagadern des Viertels und mit Kutschen gut erreichbar.

Dazu kam noch die alte Tradition des Montmartre als Ort des Vergnügens und der Flucht vor dem Alltag, eine Art großes Ventil, ein Ort des Eskapismus, in dem man abends eintauchen und versinken konnte, auch ein Ort des Nonkonformismus und der Respektlosigkeit, was Religion, politische oder sexuelle Orientierung, künstlerische Ausdrucksweisen betrifft.

Henri de Toulouse-Lautrec, Tanz im Moulin Rouge, 1890
Henri de Toulouse-Lautrec, Tanz im Moulin Rouge, 1890(c) Wikipedia

Die mondänen Feste in den Palästen waren der besseren Gesellschaft vorbehalten, das einfache Volk besuchte die „guinguettes“, Gartenschenken wie die Wiener Heurigen, die entlang des Weges hinauf zur Butte Montmartre entstanden. Hier wurde zur Musik eines kleinen Orchesters getanzt, die ausgelassenen Gäste saßen auf grob gezimmerten Holzbänken, tranken in der Regel sehr viel, der Wein war billig, viele Säufer und Vagabunden kamen auch hierher. Im Schnitt trank damals ein Franzose 140 Liter Alkohol im Jahr, heute 13. Beliebt wurde das Ausflugslokal Moulin de la Galette und das bis heute bestehende Cabaret Au Lapin Agile.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden die Vergnügungsetablissements, Music Halls und „Variétés artistiques“, alle am Fuß des Hügels. Das Leben auf der Butte selbst war dagegen auch wegen des beschwerlichen Anstiegs weitgehend friedlich und ruhig, eher trostlos trotz des schönen Panoramablicks und der romantischen Atmosphäre der engen Straßen und kleinen Häuser, mit einigen Kleinhändlern, Bauern und den Bohemiens, um die man sich kümmern musste, waren sie doch ständig vom Verhungern bedroht. Die Bewohner hier bewegten sich eher an den Randzonen der bürgerlichen Gesellschaft, Freidenker und Anarchisten waren unter ihnen. Das „Geschwür der Armut“ (Dan Franck) war durch die Haussmannsche Stadtraumgestaltung an den Rand verbannt worden. Das pittoreske Ambiente zog einige Maler an, von Künstlern gewimmelt hat es aber hier nicht, die Zahl der Ateliers war nicht so groß, das ist eine Erfindung der Tourismusindustrie. Leben herrschte hier vor allem am Morgen, wenn die Bewohner die vielen Treppen hinunter in die Stadt zu ihren Arbeitsplätzen gingen. Waren sie früh aufgestanden, konnten sie am Fuß des Hügels in der Gegend um die Place Pigalle oder Place Blanche noch den letzten Nachtschwärmern begegnen, die aus den Vergnügungsstätten stolperten.

Verruchte Tanzlokale

Ende des 19. Jahrhunderts vermischten sich am Fuß des Montmartre vornehme und lasterhafte Gesellschaft im Dienste der allgemeinen Vergnügungssucht. Bevorzugte Amüsierstätten für Nachtschwärmer aus allen gesellschaftlichen Schichten, die nach dem Motto „Fais ce que voudras“ („Mach, wonach dir ist“) lebten, wurden die neugegründeten Variététheater, Etablissements, in denen sich junge Adelige, Bürgersöhne, Provinzler und Prostituierte gleichermaßen trafen. Herzstück all dieser verruchten Tanzlokale wurde das „Moulin Rouge“. Abends um halb zehn drängten sie hinein „die einen schüchtern, die anderen mit der verächtlichen Geste der ganz großen Welt. Provinzler mit ihren lüsternen Frauen und überreifen Töchtern. Knaben aller Art. Sich überlegen spreizende Arbeiter, Ladenburschen, Nähmädchen, dicke Bürgersweiber, städtisch verkleidete Bauern und noch alles mögliche und unmögliche. Taglöhner und Hochstapler. Kommis und Barone. Wirkliche Prinzen und feiste, weltschmerzelnde Fabrikantensöhne“ wird uns berichtet.

Vergnügungsbahn im Garten des Moulin Rouge, um 1900
Vergnügungsbahn im Garten des Moulin Rouge, um 1900 (c) imago/Leemage

Das „Moulin Rouge“ besaß die berühmte Fassade mit der roten Windmühle, sie wurde durch den Einsatz der neuen Glühbirnen eine besondere Attraktion, dann einen Garten und einen Tanzsaal mit Tischreihen, die stufenweise von der zentralen Bühne anstiegen und Galerien, die die Tanzfläche umrundeten. Ein Schild neben dem Eingang verhieß: „Tanz, Unterhaltung, Variétédarbietungen.“ Ein Palast der Musik, des Tanzes und der Frauen war dem Gründer, dem Katalanen Joseph Oller vorgeschwebt, ein Gemisch aus einem café-concert, Pantomime, Bauchtanz und Variété, er wollte einen Ort schaffen, wo der anständige Bürger sich auch mal unanständig aufführen konnte und sich den Mädchen aus dem Volk nähern konnte. Der im Showgeschäft erfahrene Elsässer Charles Zidler kümmerte sich um die Vorbereitung der Nummern im Programm und um die Tänzerinnen. Er hatte ein besonderes Faible für das neue elektrische Licht und tauchte alles in ein Meer von Glühbirnen: So kamen Besucher auch ins „Moulin Rouge“, um elektrisches Licht zu sehen.

Die Kühnheit des Cancan

Die Hauptattraktion waren die Mädchen auf der Bühne und der Tanz, den sie tanzten, der Cancan, der Tanz für die Lebenslustigen, eine exzentrische erotische Zeremonie. Ursprünglich acht Minuten lang und zur Musik von Jacques Offenbach getanzt, galt er als der anstößigste Tanz der Zeit, die Briten hatten ihn verboten. Die Cancan-Tänzerinnen trugen schwarze Strümpfe mit Strumpfband, einen gerüschten Petticoat und sie hoben kreischend ihre Beine so hoch, dass man unter die Röcke schauen konnte, stets blitzten ein paar Zentimeter Haut und Höschen unter einer Reihe von Spitzen und Bändern hervor. Eine große Kühnheit. „Zwanzig Beine in der Luft! Wenn die Cancan-Tänzerinnen hochspringen, wird die Schwerkraft über die Mühle geschickt“, schrieb ein Kritiker. Besuche der Sittenpolizei und Donnerrufe von den Kanzeln gegen das „babylon moderne“ lockten nur noch zusätzliche Besucher an.

Cancan Szene aus dem Film „Moulin Rouge“ von John Huston, 1952
Cancan Szene aus dem Film „Moulin Rouge“ von John Huston, 1952(c) imago stock&people

Die Mädchen auf der Tanzbühne waren in der ganzen Stadt bekannt für ihre körperliche Elastizität, sie vermochten ihre Beine zum Spagat zu spreizen, daraus zog man Rückschlüsse auf die Dehnbarkeit ihrer moralischen Prinzipien. Unter den männlichen Besuchern waren daher nicht nur Liebhaber der Tanzkunst, sondern auch Abenteuerlustige. Die Quellen sind beim Thema Prostitution sehr diskret, es lässt sich nur indirekt erschließen, wenn man weiß, dass sich „anständige“ Frauen damals in der Öffentlichkeit nie so vertraut mit Männern zeigten. Chahuteuses („Aufsässige“) wurden die Tänzerinnen genannt, die sich so viel Freiheit herausnahmen. Meist waren sie mittellose Mädchen vom Land und zum Freiwild geworden, weil sie zum Lebensunterhalt auf die Geschenke von Freiern und wohlhabenden Beschützern angewiesen waren. Gelegenheitsprostitution war in der Belle Époque ein Massenphänomen, vom Durchschnittslohn einer Frau in Dienstleistungsberufen wie der Gastronomie konnte man nicht leben. Mit den Worten von Emile Zola: „Alle Welt sieht, dass der Verdienst der Frauen in Paris nicht zum Leben reicht. Die Arbeiterin kann zwischen zwei Möglichkeiten wählen: entweder Prostitution oder Hunger und langsamer Tod.“

Langsam stellte das „Moulin Rouge“ alle anderen Attraktionen am Montmartre in den Schatten, es bot sämtliche Kuriositäten, die man von einem Variété erwartete. Und „in den Pausen zwischen den Tanznummern flanieren Männer und Frauen hin und her, berühren einander, bilden Wirbel im Strom und das alles unter einem verwirrenden Durcheinander von Hüten aller Art. Flotte Mieder in kirschrotem, gelbem, weißem und blauem Satin wie auch Röcke in allen Farben bereiten dem Auge ein Fest und faszinieren den Beobachter. Der Duft von Tabak und Reispuder umgibt den Besucher“ (aus einem zeitgenössischen Reiseführer, dem „Guide de Plaisirs à Paris“).

Das Milieu der Ausgestoßenen

Was zog die Künstlergeneration nach den Impressionisten hierher, beginnend mit Vincent van Gogh, der 1886 vom Montmartre den Blick auf die Stadt malte? Sie fanden hier neue Themen und Motive, „hielten in bislang unbekanntem Realismus die Welt der Außenseiter, der Diebe, Bettler, Gaukler, Prostituierten und Trinker, aber auch der Arbeiter und Demonstranten fest“ und fanden neben neuen Themen auch „eine veränderte Definition der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft“ (Ingrid Pfeiffer von der Frankfurter Kunsthalle Schirn). Wenn sie die Schattenseiten des Nachtlebens, Prostitution und Trunksucht in bis dahin ungekanntem Realismus darstellten, waren das Lebenslagen, die sie aus eigener Erfahrung kannten. Fast alle der Künstler frequentierten Bordelle, einige zogen sich die Syphilis zu, viele verfielen der „grünen Fee“, dem Absinth. Mit dem Außenseitertum der Prostituierten solidarisierten sie sich: „Ausgestoßen und abgelehnt von der Gesellschaft, wie Du und ich es als Künstler sind, ist sie (die Hure) gewißlich unsere Freundin und Schwester“ (Vincent van Gogh).

Einer, der sich mit den Tänzerinnen und Prostituierten solidarisierte, war der mythenumrankte Maler Henri Toulouse-Lautrec. In seinen Bildern der Tänzerinnen des „Moulin Rouge“ und der Frauen im Bordell fehlt jeglicher voyeuristische Blick. Da er fast täglich in diesen Lokalen verkehrte und gelegentlich auch in einem der „maisons closes“ ein Zimmer mietete, hatte er einen anderen, einen Anteil nehmenden, feinfühligen Innenblick auf die Frauen. Man merkt den Bildern an, dass er das Vertrauen der Modelle besaß. Zum Erfolg des „Moulin Rouge“ trug er als sein Stammkunde wesentlich bei: Die auffälligen Werbeplakate im Stil des neuen Japonismus, die er entwarf und in denen er die Stars des Ensembles verewigte, brachten nicht nur dem Etablissement, sondern auch ihm Ruhm und Anerkennung und befreiten ihn von den dringendsten finanziellen Sorgen.

Der Maler Henri de Toulouse-Lautrec
Der Maler Henri de Toulouse-Lautrec(c) Wikipedia

Hunger auf Sensationen

Die Tänzerin Jane Avril, eines der Lieblingsmodelle von Toulouse-Lautrec
Die Tänzerin Jane Avril, eines der Lieblingsmodelle von Toulouse-Lautrec(c) Wikipedia

Die im „Moulin Rouge“ und den anderen Variétés auftretenden Künstler wurden zu Stars aufgebaut, zwischen den Besitzern der Etablissements gab es ein regelrechtes Gerangel um sie. Ihre herausragenden Fähigkeiten sollten auch ein internationales Publikum anlocken. Das gelang auch und so kam es, dass sich Prominente wie der König von Belgien oder Sigmund Freud an den Darbietungen eines Kunstfurzers delektierten. Gemeint ist Joseph Pujol, genannt „Le pétomane“ („Der Blähsüchtige“), der mit seinen Darmgeräuschen von der Marsaillaise bis zu „Au clair de la lune“ alles Mögliche intonieren konnte. Dann Aristide Bruant, der als Chansonnier im Jargon der französischen Gaunersprache, dem Argot, im „Chat noir“, dem Prototyp eines cabaret artistique, seine aufmüpfigen Lieder präsentierte. Am berühmtesten unter den Stars des „Moulin Rouge“ war die Diseuse und Chansonsängerin Yvette Guilbert, die bei ihren anrüchigen Liedern die bestehende Zensur geschickt umging, indem sie die zensierten Worte mit einem Hüsteln umschiffte. Ihr Markenzeichen waren die bis über die Ellbogen reichenden schwarzen Handschuhe. Vanetin le Désossé (der „Entknochte“) trat als „Schlangenmensch“ auf, durch einen angeborene Bindegewebsanomalie besaß er einen überdehnbaren Körper, der zu allerlei Verrenkungen befähigt war. Dann die Tänzerin Jane Avril, die durch ihre raffinierte Garderobe berühmt wurde und nie ohne extravaganten Hut tanzte. Sie alle wären heute längst vergessen, wenn sie nicht von Toulouse-Lautrec verewigt worden wären.

So jagte ein Spektakel das nächste, der Hunger auf Sensationen schien unersättlich. Nach der Jahrhundertwende ebbte die Begeisterung über die frivolen Tänze ab, schon drei Jahre nach der Gründung erlebte das „Moulin Rouge“ seine erste Krise. Doch die verklärende Erinnerung an die großen Jahre des Montmartre, die „lebende Legende“, bleibt in der Erinnerung bestehen, als „ein großes Ventil, eine Art permanenter Karneval, der viel Konfetti einsetzte, manches Bonbon verteilte, grelles Scheinwerferlicht verwendete, aber auch dunkle Schatten warf“ (Peter Kropmans in seinem Katalogbeitrag zu „Esprit Montmartre“). Der Erste Weltkrieg setzt dann der Belle Époque unwiderruflich ein Ende.

Literatur

Viel Quellenmaterial zu dem Thema findet man in dem hervorragenden Katalog-Buch “Esprit Montmartre“ zur Ausstellung in der Schirn-Kunsthalle Frankfurt:. München: Hirmer Verlag. (Die Ausstellung war vom Februar bis Juni 2014 zu sehen).

Die aktuelle Ausstellung im Kunstforum der Bank Austria in Wien „Henri Toulouse-Lautrec“ ist noch bis 25. Jänner 2015 zu sehen, dazu erschien ein Katalog über Lautrecs „Weg in die Moderne“.

Weitere Quellen-Zitate verdanke ich den Diplomarbeiten von Petra Göbl: Das Moulin Rouge 1889 bis 1900 und Gabriele Liesinger: Montmartre: Künstler- und Vergnügungsviertel. Die Arbeiten sind nur in Bibliotheken erhältlich.

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