In Graz steht jener 17-Jährige vor Gericht, der einen Bekannten erschossen und verscharrt hat. Ob er seine Freundin verteidigt oder vorsätzlich gemordet hat, muss das Gericht klären.
Graz. Er wirkt wie ein unscheinbarer Bub, wie er da neben dem großen, bulligen Justizwachebeamten sitzt. In Jeans und dunkelblauem Hemd, mit akkuratem Haarschnitt, an den Seiten kurz, auf dem Oberkopf lang, so wie es Burschen seines Alter eben heute tragen. Schlaksig, der Kopf steckt zwischen den Schultern, wenn er den Verhandlungssaal erst betritt, nachdem diesen der letzte Kameramann verlassen hat. Sebastian S., jener 17-Jährige, der vorigen Juni, damals 16 Jahre alt, den gleichaltrigen Marcel S. in seinem Partykeller in Graz erschossen hat.
Seit Montag soll dort, im Straflandesgericht, die Frage geklärt werden, ob er vorsätzlich gemordet oder aus Notwehr gehandelt hat. Was in der Nacht geschehen ist, scheint zunächst klar: Gastgeber Sebastian S., seine damalige Freundin und der gemeinsame Bekannte Marcel S., genannt „der Kärntner“, treffen sich in der Kellerwohnung. Sie konsumieren Drogen, beide Burschen haben Sex mit der 14-Jährigen, sie fahren gemeinsam nach Villach. Zurück in Graz erschießt Sebastian S. Marcel S. aus kurzer Distanz mit einem Kleinkalibergewehr.
Zwei Varianten einer Nacht
So weit, so eindeutig. Die Details klingen bei Anklage und Verteidigung allerdings gegensätzlich: Staatsanwältin Kathrin Heidinger schildert eine Art Drogenparty, die Burschen sollen konsumiert und dem Mädchen Betäubungsmittel ins Getränk gemischt haben. Anschließend hätten beide das Mädchen vergewaltigt und mit vorgehaltener Waffe in der Wohnung festgehalten. Erst in der darauffolgenden Nacht – und nach der Fahrt nach Villach – habe Sebastian S. Marcel S. in der klaren Absicht, ihn zu töten, in den Kopf geschossen. Er habe ihn dann noch angestoßen und „Der ist hin“ gesagt, schildert Heidinger, die für eine Verurteilung und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher plädierte.
Gerald Ruhri, der Anwalt des Burschen, stellt die Geschehnisse im Juni 2014 ganz anders dar. Demnach hätte Besucher Marcel S. während der Party, die völlig aus dem Ruder gelaufen sei, das Kommando übernommen, Sebastian S. und seine damalige Freundin terrorisiert, das Mädchen vergewaltigt und Sebastian S. dazu gezwungen, das ebenfalls zu tun. Auch habe Marcel S. die beiden mit vorgehaltener Waffe gezwungen, mit ihm nach Villach und retour zu fahren, um seine Sachen zu holen.
Von der Situation, dem Drogenkonsum und Schlafentzug völlig überfordert, habe sich sein Mandant nicht anders zu helfen gewusst, als auf Marcel S. zu schießen, um seine Freundin aus dessen Gewalt zu befreien. Dann habe er seinen Großvater um Hilfe gebeten, die beiden brachten die Leiche mit einem Taxi nach Ungarn, wo sie in Müllsäcke gewickelt und vergraben später gefunden wurde.
Während für die Anklage feststeht, dass der Angeklagte vorsätzlich gehandelt hat, zeichnet sein Anwalt zum Prozessauftakt das Bild eines Jugendlichen, der nie so recht eine Chance hatte. Und versucht, den Geschworenen das Bild des kalten Mörders, des „psychischen Krüppels“ (so stelle Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner Sebastian S. in ihrem Gutachten dar, wie Ruhri sagt) durch das eines sensiblen, verlorenen Teenagers zu ersetzen, der fast Mitleid verdient. Beobachtet man den schmalen Burschen, wie er nach unten starrt, sein Kinn anspannt und schwer schluckt, als Ruhri seine triste Geschichte erzählt, möchte man es fast glauben. In seiner Geschichte geht es um einen heftigen Obsorgestreit – Gerichtsverfahren, Vorwurf des sexuellen Missbrauchs und Bettnässen im Schulalter inklusive –, um Therapien, viele Schulwechsel.
Kastner attestiert Gefahr
Ruhri führt auch die Beziehung zur 14-Jährigen ins Treffen, zitiert Liebesbriefe, die das Mädchen Sebastian S. noch geschrieben habe, als der schon in Haft saß. Man zeige heute mit dem Finger auf sie, schreibt sie. Und der Verteidiger greift Psychiaterin Kastner an, die ihr Gutachten erstellen musste, ohne mit dem Angeklagten zu sprechen, da Sebastian S. dies verweigerte. Kastner attestierte dem Jugendlichen Zurechnungsfähigkeit, aber auch Gefährlichkeit. Nach den Plädoyers wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Der Prozess wird heute, Dienstag, fortgesetzt. Ein Urteil wird für April erwartet.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2015)