Briefe an Stalin: Karl Renner – ein listiger Schmeichler

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Der ehemalige Staatskanzler des Jahres 1918 bot sich bei Kriegsende dem Kreml an. Durch übertriebene Freundlichkeiten erlangte er Stalins Zustimmung, eine provisorische Regierung zu bilden.

Der Briefwechsel zwischen Karl Renner und Josef Stalin aus dem Jahre 1945 und die Verschluss-Telegramme zur Gründung der Zweiten Republik werden erstmals in Österreich gezeigt: Die Originale aus dem russischen Staatsarchiv sind ab morgen, Freitag, im niederösterreichischen Landesmuseum in Sankt Pölten einen Monat lang ausgestellt. Gleichzeitig werden die Dokumente in Originalkopie im Museum von Hochwolkersdorf, dem Originalschauplatz der Ereignisse, ausgestellt werden und täglich zu besichtigen sein. Die Historiker des Grazer Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Stefan Karner und Peter Ruggenthaler, haben es mit ihren jahrelangen Kontakten zu Moskauer Zeitgeschichte-Kollegen geschafft, diese Originale erstmals nach Österreich zu bringen.

Schon im ersten (handgeschriebenen) Brief an den Diktator bietet sich der 74-jährige Renner an, eine provisorische Staatsregierung mit Billigung der sowjetischen Besatzungsmacht zu bilden und verweist darauf, dass er diese Aufgabe schon einmal, 1918 bei der Gründung der Republik Deutschösterreich, erfolgreich gelöst hatte. Der alte Sozialdemokrat hatte die Kriegsjahre unbehelligt in seiner Villa in Gloggnitz überlebt, das die sowjetischen Truppen am 3. April 1945 erreichten. Renner begab sich nach Hochwolkersdorf zum Stab der einmarschierenden Division, bat zunächst um Schonung der Zivilbevölkerung und bot sich dann zum Wiederaufbau der Demokratie an. Der sowjetische Truppenkommandeur meldete diesen seltsamen Vorgang sogleich nach Moskau. Die spätere Darstellung, dass Stalin den alten Renner bereits habe suchen lassen, ist mit den vorliegenden Dokumenten nicht nachzuweisen.

Durch teils absurd klingende Schmeicheleien an Stalin (den er 1913 in Wien flüchtig kennengelernt hatte) erreichte Renner dessen Zustimmung. So schließt der erste Brief vom 15. April 1945 mit einem Dank an die Rote Armee „und Ihnen, deren ruhmbedeckten Obersten Befehlshaber, im persönlichen wie im Namen der Arbeiterklasse Österreichs aufrichtigst und ergebenst. [. . .] Dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich.“ Dass Renner, der rechte Flügelmann der alten SDAP, unter „Sozialismus“ etwas ganz anderes verstand als die Sowjets, war ein Glücksfall für Österreich. Später, im Oktober, verstieg er sich sogar zu der Behauptung: „Das Land ist absolut frei von nationalsozialistischen Bewegungen. [. . .] Österreich ist gar nicht fremdenfeindlich, im Gegenteil, es freundet sich mit ihnen gerne an.“

Am Samstag findet im niederösterreichischen Landesmuseum eine wissenschaftliche Tagung zum Thema „Österreich 1945“ statt. Veranstalter sind das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, die österreichisch-russische Historikerkommission und das nö. Landesmuseum. (hws)

Mehr über die Renner-Stalin-Briefe: am Samstag in der Serie „Die Welt bis gestern“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2015)

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