Noch einmal 1914: Brachte das Gedenkjahr neue Erkenntnisse?

Ein Militärhistoriker sichtete die letztjährige Publikationsflut zu Vorgeschichte und Verlauf des Ersten Weltkriegs.

Die jüngst sich häufenden Jahrestage, denen sich das historisch interessierte Publikum zuletzt gegenübersah, führten zu wahren Fluten an Publikationen und TV-Sendungen: 1914, 1945 – und bald schon 1917. Bücher über Bücher, keine Tages- oder Wochenzeitung, die nicht Rückschau gehalten hätte, Fernsehdokumentationen, Themenabende, historische TV-Dramen. Unter all dem Gebotenen viel Gescheites, aber noch mehr Oberflächliches. Unversehens stellt sich da das Gefühl der Informationsüberfütterung ein.

Aber bringen solche Jahrestage denn auch wissenschaftlich etwas weiter? Gibt es neue Erkenntnisse, die Korrekturen in den bisherigen Darstellungen erzwingen? Es gibt tatsächlich Historiker, die die gewaltigen Publikationsberge durchstöbern und darin nach Neuigkeiten bzw. Neugewichtungen forschen. Michael Epkenhans ist so ein Unermüdlicher. Der Militärhistoriker vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der deutschen Bundeswehr in Potsdam hat die wichtigsten Bücher zu Vorgeschichte, Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs, die 2014 in den Buchläden auftauchten – und es waren viele Dutzende –, gelesen. Das Ergebnis seiner kritischen Sichtung stellt er in einem langen Aufsatz im neuesten Heft der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2/2015) vor.

Bis zum Gedenkjahr 2014 hatte es in der deutschen Historikerzunft einen weitreichenden Konsens über die „besondere Verantwortung des Deutschen Reichs“ für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegeben. Nicht zuletzt durch den Bestseller „Die Schlafwandler“ des australisch-britischen Historikers Christopher Clark geriet dieser Konsens ins Wanken. Eine Kernaussage Clarks: „Die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten.“ Für viele Deutsche, auch für jüngere deutsche Historiker, die Clarks Buch verschlangen, schien dies wie eine Art Freispruch von einem Außenstehenden. Clark schien in den Augen mancher damit Deutschland vom Makel des ewigen Störenfrieds und Sonderweglers zu befreien – und so mitzuhelfen, dass der Weg für die längst überfällige Stärkung des deutschen Gewichts in Europa und der Welt wieder frei wird.

Epkenhans hält nicht viel von solchen Übertragungen historischer Erkenntnisse ins Heute: „Historiker sollten sich auf das Parkett sachlicher Diskussionen zurückbegeben (...), das Politisieren sollten sie anderen überlassen.“ Der Potsdamer Gelehrte lobt zwar die vergleichende Forschung Clarks zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, hält aber nichts von dessen These der „Schlafwandler“. Denn Bethmann Hollweg, Poincare, Sasonow, Grey und andere Akteure hätten „im Juli 1914 ganz genau gewusst, was sie taten oder eben nicht taten“. Ungeachtet aller Konflikte und Krisen vor 1914 sei der Weg in den Ersten Weltkrieg eben keineswegs unvermeidlich vorgezeichnet gewesen. Epkenhans kann mit dem Bild des Kölner Historikers Jost Dülffer von den „Pokerspielern“ von 1914 viel mehr anfangen – und gerade die Verantwortlichen in Wien und vor allem Berlin hätten sich da eben gewaltig „verzockt“.

Unter den vielen Büchern, die Epkenhans kritisch gesichtet hat, lobt er die über 1000-seitige Studie Jörn Leonhards von der Uni Freiburg „Die Büchse der Pandora“ am meisten: „Ungeheuer belesen, quellennah, differenziert und treffsicher im Urteil beschreibt Leonhard entlang der Kriegsjahre die Ereignisse und Entwicklungen aus globaler Perspektive.“ Leonhard dient dabei der Vertrauensverlust in den internationalen Beziehungen als Schlüssel zur Erklärung des Geschehens. Zwar auch nicht neu, aber jedenfalls originell...

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.