Später Schuldspruch für SS-Mann

Urteil im Prozess wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 F�llen
Urteil im Prozess wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 F�llen(c) APA/dpa/Axel Heimken (Axel Heimken)
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Oskar Gröning wurde wegen Beihilfe zu Mord zu vier Jahren Haft verurteilt. Der „Buchhalter von Auschwitz“ hat das Geld der Deportierten abgezählt und an die SS weitergeleitet.

Wien/Lüneburg. Noch vor zwei Wochen, am zwölften Verhandlungstag, ließ Oskar Gröning über seine Anwältin Susanne Frangenberg vor Gericht eine Erklärung vorlesen: Gröning habe immer wieder versucht, aus dem KZ Auschwitz an die Front versetzt zu werden; ja, er habe „immer mal wieder“ an der Rampe ausgeholfen; und ja, er trage eine „moralische Mitschuld“ an den Verbrechen der Nazis. Am Anfang des Prozesses hoffte Gröning noch auf Vergebung von jenen Überlebenden, die als Nebenkläger Platz im Landgericht Lüneburg genommen hatten. Am zwölften Verhandlungstag ließ er dann wissen: Um Vergebung könne er nur mehr seinen Herrgott bitten.

Am Mittwoch endete der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Gröning mit einem Schuldspruch wegen Beihilfe zu Mord in 300.000 Fällen. Der 94-Jährige wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, wobei seine Haftfähigkeit von der Staatsanwaltschaft noch geprüft werden muss. Mit dem Urteil hat das Gericht das von der Anklage geforderte Strafausmaß – dreieinhalb Jahre – übertroffen. Die Überlebenden zeigten sich nach dem Schuldspruch zufrieden, zumal erstmalig in einem NS-Prozess ein Angeklagter seine Schuld eingeräumt habe, wie Thomas Walther, der Anwalt der Nebenkläger, feststellte.

„Sicherer Schreibtischjob“

Gröning war zwei Jahre lang im KZ Auschwitz tätig. Der deutsche „Spiegel“ bezeichnete ihn in einer Geschichte aus dem Jahr 2005 als den „Buchhalter von Auschwitz“, ein Beiname, den er seitdem in den Medien beibehalten hat. Dem Magazin erzählte er auch, wie seine Dienste an der Rampe – wo die Selektion vor der Gaskammer stattfand – organisiert waren: Nach einem neuen Transport musste er das Gepäck der Opfer bewachen. Gröning war dafür zuständig, das Geld der Deportierten zu zählen und an die SS weiterzuleiten.

Dem „Spiegel“ erzählte Gröning, seine Gesuche, an die Front versetzt zu werden, seien zwei Mal abgewiesen worden. Im Prozess in Lüneburg sagte Richter Franz Kompisch indes: „Ich will Sie nicht als feige bezeichnen, Herr Gröning, aber Sie haben sich für den sicheren Schreibtischjob entschieden.“ Der Dienst in Auschwitz sei die Entscheidung Grönings gewesen, so Kompisch; „sicher aus der Zeit heraus bedingt, aber nicht unfrei“.

Im September 1944 verließ Gröning schließlich das KZ, heuerte nach dem Krieg als Buchhalter in einer Firma an. Ende der 1970er-Jahre wurden Ermittlungen eingeleitet, die auch Gröning betrafen. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft stellte sie 1985 aus Mangel an Beweisen ein. Bereits zuvor war es vom Bundesgerichtshof festgestellt worden, dass für eine Verurteilung von KZ-Wächtern die individuelle Beteiligung nachgewiesen werden muss. Seit dem Fall John Demjanjuk, Jahrgang 1920, ist das Nachweisen der Einzeltat nicht mehr notwendig. Demjanjuk, Soldat der Roten Armee, war während seiner Zeit als Gefangener der Wehrmacht ihr Handlanger im Vernichtungslager Sobibor. Er wurde 2011 wegen Beihilfe zu Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sowohl Anklage als auch die Verteidigung legten Revision ein. Demjanjuk starb 2012, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

Auch im Fall von Gröning prüfen Anklage und Verteidigung eine Revision. Die Anklage gegen ihn bezog sich auf die Zeit, als von Mai bis Juli 1944 über 438.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert wurden.

Die britische BBC drehte vor zehn Jahren eine Doku über Gröning. „Ich habe die Gaskammern gesehen. Ich habe die Krematorien gesehen“, sagte er, „ich war an der Rampe, als die Selektionen durchgeführt wurden.“ Er rede auch deswegen über Auschwitz, so Gröning zum „Spiegel“, damit die Holocaust-Leugner in die Schranken gewiesen werden. (duö)

AUF EINEN BLICK

Auschwitz. Knapp drei Monate dauerte der Prozess gegen Oskar Gröning (94), einen ehemaligen SS-Mann, der als „Buchhalter von Auschwitz“ bekannt wurde. Mehrere Male versah Gröning an der Rampe vom KZ Auschwitz Dienst, wo die Deportierten selektiert und ihnen ihr Besitz weggenommen wurde. Gröning zählte das Geld der Opfer nach und schickte es an die SS. Erste Ermittlungen gegen ihn wurden 1985 wegen Mangels an Beweisen eingestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2015)

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