Argentinien: Das Wische-Wirtschaftswunder

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Anders als Griechenland schlitterte Argentinien in die Pleite. Das Land emittierte einst Schuldscheine. Das Geld, das keines war, kurbelte die zerstörte Wirtschaft an.

Die Zettel sahen aus wie Geld, zumindest auf der Vorderseite, auf die der Kopf des argentinischen Staatsvaters, Juan Bautista Alberdi, gedruckt war, daneben Staatswappen und Notenwert. Doch hinten war ausgewiesen, was diese Wische wirklich waren: Schatzbrief zur Erfüllung von Zahlungsverpflichtungen, genannt Patacón. Ausgegeben von der Regierung der Provinz Buenos Aires, im Zeichen eines „administrativen, ökonomischen und finanziellen Notstands“.

Heute sind derartige Billetts vergilbte Sammlerstücke mit überschaubarem Wert, beim argentinischen eBay-Ableger Mercado Libre kosten sie, je nach Zustand, umgerechnet zwischen drei und 15 Euro. Doch vor 14 Jahren waren sie die letzte Rettung eines Staates, dessen Kassen leer waren. So leer wie nun jene Griechenlands.

Der Anfang von Argentiniens Ende war eine Absage des Internationalen Währungsfonds. Ende Oktober 2001 gab es keine neuen Kredite mehr. Für besser verdienende – und zumeist besser informierte – Argentinier war das ein Fanal. Sie räumten ihre Konten leer und schafften ihre Dollar nach Uruguay, mauerten sie ein oder vergruben sie im Garten.

Am 1. Dezember verfügte die Regierung unter Fernando de la Rúa dann die Kontensperre, die der TV-Journalist António Lage „corralito“ nannte, das „kleine Gatter“. Und kurz vor dem Jahreswechsel 2001/2002 verkündete der Interimspräsident, Adolfo Rodríguez Sáa, schließlich den totalen Ausfall von Argentiniens Zahlungsverpflichtungen. Die zur Sondersitzung einbestellten Parlamentarier bejubelten das ebenso ausgelassen wie viele Griechen kürzlich ihr Oxi.


Plünderungen und Gewaltausbruch. Ob sich die Analogien hier erschöpfen, muss sich in den nächsten Monaten weisen. Bis frisches Bargeld nach Griechenland kommt, werden dessen letzte Geldreserven dahinschmelzen wie jene Argentiniens vor dem Gewaltausbruch des 19. Dezember 2001, während dessenPräsident de la Rúa mit dem Hubschrauber nach Uruguay floh. Danach folgten Plünderungen, Staatspleite und schließlich die Präsidentenkür des mächtigen Peronisten António Duhalde, der gemeinsam mit Provinzgouverneuren beschloss, die kommenden Monate mit „cuasimonedas“ zu überbrücken“ .

Fastgelder – so lautete der Terminus für die Schatzbriefe, die einige Provinzen schon vor dem Staatsbankrott auflegten, um Polizisten, Krankenschwestern und Justizdiener zu bezahlen, aber auch Mütter notleidender Familien. Den Vätern gab man die Schatzbriefe nicht aus Sorge, das Geld würde alsbald versoffen.

Manche dieser Substitute waren ordentlich gefertigt wie etwa die Patacónes, die von derselben Firma hergestellt wurden, die heute – nach einem Korruptionsskandal um den immer noch amtierenden Vizepräsidenten, Amado Boudou, verstaatlicht – die Peso-Noten druckt. Andere aber waren rezyklierte Australes, so hieß die Währung bis zur Hyperinflation 1989.

Name und Nennwert der Schatzbriefe wurden schlicht auf die alten Billetts gestempelt. Ausgegeben wurden die Fastgelder von der Mehrzahl der 23 argentinischen Provinzen, aber auch dem Bundesstaat und sogar einzelnen Stadtverwaltungen. Manche hatten technisch klingende Namen wie Lecop, Lecor oder Bocade. Andere hießen wie Bäume (Quebracho) oder Urvölker (Huarpes).

Der Wert des Fastgeldes entsprach zwar offiziell dem des richtigen, doch viele Händler und selbst Buslinien nahmen die Ersatzbillets nur mit Aufschlag an. „Wir bekamen vor allem Patacónes“ erinnert sich beispielsweise Andrés Saldivia, dessen Eltern eine Tankstelle in der Stadt San Pedro besitzen, etwa 170 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Buenos Aires. „Anfangs wollten wir sie gar nicht annehmen, aber als immer mehr Kunden nur noch damit zahlen konnten, hatten wir keine andere Wahl.“


Keine Alternativen. Während es sich manche Händler in der Hauptstadt leisten konnten, neben das inzwischen obligatorische Schild „Keine Kreditkarten!“ auch noch ein „Keine Patacónes“ zu hängen, hatten Wirtschaftstreibende im Landesinneren, wo zumeist der Staat der größte Arbeitgeber ist, keine Alternative. Die meisten Fastwährungen waren nur in jener Provinz gültig, in der sie ausgegeben wurden. Die einzige Ausnahme war der Lecop, den die Bundesregierung zunächst nur als Zahlungsmittel zwischen Zentralstaat und Provinzen aufgelegt hatte, der jedoch später vor allem in Form von Sozialhilfe (30 bis 70 Dollar pro Familie) im ganzen Land ausgezahlt wurde.

Mariela Pastorini, die mit ihrer Familie im Hauptstadtviertel Once Kosmetikbeutel fabriziert, nahm die Substitute nur im Notfall an – und gab sie dann sofort wieder aus. Pesos versuchte sie zu bunkern. Weil das alle so machten, geschah zweierlei: Das echte Geld wurde immer knapper. Und das Geld, das keines war, kurbelte den Konsum an. Tatsächlich hat die heute 52-jährige Hauptstädterin nicht nur negative Erinnerungen an jene Zeit, denn ihr Geschäft boomte ausgerechnet nach dem Bankrott des Staates. Weil monatelang keine Importe mehr ins Land kamen, suchten Boutiquen verzweifelt nach Qualitätsware für ihre betuchte Kundschaft. Denn, Krise hin, Pleite her, Geld war immer genug da in den besseren Hauptstadtvierteln Recoleta, Barrio Norte und Belgrano.

Wie die wohlhabenden Griechen hatten Argentiniens Reiche Milliarden außerhalb des Finanzsystems gebunkert, wahrscheinlich sogar mehr als die Gesamtsumme der ausgefallenen Auslandsschuld, die mehr als 100 Milliarden Dollar ausmachte.

Als der Peso Ende 2002 drei Viertel seines Wertes verloren hatte, kehrten Teile dieses Fluchtkapitals zurück. Wer seine Ersparnisse rechtzeitig hatte sichern können, bekam nun eine Wohnung zu einem Viertel des vorherigen Preises oder noch günstiger, denn der brutale Absturz der Wirtschaft – mit einem Minus von 12,1 Prozent 2002 – hatte das allgemeine Preisgefüge in die Tiefe gerissen. Die investierten Fluchtgelder ermöglichten es der Regierung, die Kontensperre für kleine Kunden zu lockern und Kreditkarten wieder zu erlauben. Nach der ersten Erntesaison Anfang 2003 wuchs die Wirtschaft wieder, die einströmenden Dollars für Mais und Soja waren ja nun viermal so viel wert wie vor der Pleite.


Schwarzmarkt. Je weiter es aufwärts ging, desto größer wurde die Furcht vor dem Fastgeld. Weil viele Bürger die Ersatzscheine unbedingt loswerden wollten, etablierte sich ein Schwarzmarkt. Andrés Saldivia tauschte Taschen voller Patacónes von der Tankstelle seiner Eltern in den „Finanzhöhlen“ von Buenos Aires in Pesos.

„Der Kurs war 1:2, das heißt, wir verloren die Hälfte. Aber wir hatten keine Möglichkeit, all diese Patacónes auszugeben.“ Niemand wollte sie haben, weil alle Angst hatten, sie könnten über Nacht wertlos werden. Zumindest diese Katastrophe trat nicht ein, sukzessive ließ der Finanzminister Roberto Lavagna sämtliche „cuasimonedas“ einziehen, bis Ende 2003 nur noch Pesos zirkulierten.

Zwei Jahre dauerte also die Karriere des Geldes, das keines war. Es stabilisierte ein Land, dem keine andere Wahl blieb, als sich selbst zu helfen. Aber eben auch ein Land, das sich selbst helfen konnte. Argentinien hatte die Möglichkeit, seine Währung massiv abzuwerten. Es bekam die Chance eines beginnenden Rohstoffbooms. Es verfügt über die fruchtbarste Ebene der Welt. Und, vor allem: In ihm leben Bürger, die gelernt haben, Wirtschaft zu treiben, selbst wenn gar kein Geld mehr da ist.

Staatsbankrott

Ende 2011 schlitterte Argentinien in die Pleite. Wie in Griechenland räumten zuvor auch viele Argentinier ihre Konten leer. Sie schafften die Dollars nach Uruguay. Über Nacht mussten alle Banken schließen, die Konten wurden eingefroren.

Die argentinischen Provinzen, der Bundesstaat und einige Stadtverwaltungen legten Fastgelder auf, um Polizisten, Krankenschwestern und Justizdiener zu bezahlen.

Zahlen

100Milliarden Dollar:
So hoch waren die Auslandsschulden Argentiniens.

-12,1Prozent: So brutal stürzte die argentinische Wirtschaft im Jahr 2002 ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2015)

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