art €co: Keine Ahnung - trotzdem erfolgreich

Teil 4. Was Sie immer schon über Komplexität wissen wollten: Die neue „DiePresse“-Serie über Kybernetik als Denk- und Strategieschule.

„Die Presse“: Komplexes ist per se undurchschaubar und unvorhersehbar. Alles, was Management verlangt, ist komplex. Man hat nie vollständiges Wissen und immer zu wenig Information. Wir managen Black Boxes. Wie ist man dann trotzdem erfolgreich?

Josef Fritz: Wir dürfen Management nicht mit der Schule verwechseln, wo man schlechte und damit beschämende Noten für Dinge bekommen hat, die man nicht wusste. Im Management ist es keine Schande, nicht alles zu wissen, und es gehört zur heutigen Zeit, dass immer wieder Situationen entstehen, von denen man sich kein eindeutiges Bild machen kann.

Maria Pruckner: Das unterschreibe ich voll und ganz. Setzen wir damit fort, dass es gar keine Systeme gibt…

Wie bitte? Warum reden wir dann ständig von Systemen…!?

Fritz: Die Frage ist, wovon wir hier genau sprechen. Wenn man von Systemen spricht, spricht man von Vorstellungen, wie bestimmte Dinge zusammenhängen und zusammenwirken.

Pruckner: Es gibt nur ein einziges System – das Universum, soweit wir es kennen und darüber hinaus. Alle und alles wirken hier zusammen. Andere Systeme gibt es nur in Köpfen, es sind nur Phantasien.

Bedeutet das, die Kybernetik ist dazu da, die richtigen Phantasien zu entwickeln…?

Pruckner: Genau darum geht es. Weil wir im Umgang mit Komplexem nie alles wissen können, können wir nur genau jene Phantasien entwickeln, die in der Realität dann auch tatsächlich funktionieren. Dafür entwickeln wir in der Kybernetik Modelle, die entscheidende zusammenwirkende Zusammenhänge überschaubar machen. Mit den kybernetischen Designprinzipien, die den Gesetzmäßigkeiten der Natur entsprechen, zeigen wir hingegen, wie das effektive Zusammenwirken gestaltet werden muss. Mit der Kybernetik liefern wir also Anleitungen zum Erkennen, um herauszufinden, woraus und wohin sich eine Situation entwickelt und was sie braucht, damit es im Gesamten besser statt schlechter wird. Dadurch kann man erfolgreich managen, obwohl man keine Ahnung hat.

Fritz: Das ist jetzt der Punkt, an dem glasklar wird, dass wir schon lange nicht mehr mit Intuition und dem Hausverstand managen müssen. Wir haben längst verlässliche Grundlagen, Werkzeuge und Methoden, um hilfreiche Vorstellungen von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu entwickeln, die mit den Entwicklungsmöglichkeiten in der Praxis auch übereinstimmen.

Kann man sagen, wir haben ein Problem mit herrschenden Phantasien? Ist das die von Ihnen beschriebene Komplexitätsfalle?

Pruckner: Ja, ganz genau. Die Wirklichkeit neigt dazu, sich so zu zeigen, wie man über sie denkt und spricht. Phantasien haben eine starke Tendenz dazu, sich zu manifestieren. Wo unrealistische Gedanken herrschen und ein ungenauer Umgang mit Sprache, schaukeln sich rasch viele hartnäckige Probleme auf, die mit mehr und mehr falschen Überlegungen und Mitteln und immer höheren Kosten nie gelöst werden.

So etwas erklärt sich durch die Kybernetik?

Fritz: Ja, sie erklärt die Macht der Eigendynamik, die durch Information entsteht und damit wie aus Phantasien Realität wird. Dadurch hat die Kybernetik das von Natur aus Unvorhersagbare doch vorhersagbar gemacht. Man kann man vorhersagen, ob etwas durch etwas besser oder schlechter werden wird. Man erkennt also, was man besser tun und was man lassen sollte.

Ich möchte auf Ihre Offensive im Rahmen der Vienna Biennale zurückkommen. In der Kunst lebt man von der Phantasie. Ihre Lösungen stammen einerseits aus Ihrer langen Zeit in Kliniken, andererseits haben Sie Ihre Lösungen über Jahrzehnte anhand aufwändiger Studien an Theatern und beim Film entwickelt.

Pruckner: Wie man in kurzer Zeit mit geringsten Mitteln überzeugende Phantasien entwickelt, die das Publikum mitreißen und begeistern, beherrscht man vor allem am Theater und beim Film. Mich interessiert aber Phantasie mit Verantwortung. Daher sind die Erfahrungen aus meiner Klinikzeit unverzichtbar. Gemeinsam haben beide Bereiche hohe Dynamik und ein extrem hohes Interaktionstempo. Man muss schneller sein als die Eigendynamiken, nur dann bekommt man sie in den Griff. In der Kunst war die Kybernetik daher schon immer zu Hause.

Fritz: Verantwortung, genaue Diagnostik, Prognostik und wirksames Behandeln lernt man am besten von der Spitzenmedizin. Das dürfen wir uns im Management zum Vorbild nehmen. Von der Medizin lernt man aber auch, dass hohes Tempo kein Verlassen der Komfortzone ist, sondern dass das Arbeiten erst komfortabel wird, wenn alle rasch genug interagieren.

Pruckner: Das ist am Theater und Film genauso. Gesichert wird das hohe Tempo durch extrem präzise Vorbereitung und Organisation, auch in der Medizin. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Kann man sagen, ob in der Medizin, Kunst oder sonst irgendwo: Alles, was hocheffektiv und vor allem dauerhaft und überall funktioniert, hat den Charakter erfüllter kybernetischer Sollwerte, ob man sie nun kennt oder nicht?

Fritz: Ja. Peter F. Drucker hat sich mit seiner Managementtheorie diskret, Stafford Beer mit der Management-Kybernetik kompromisslos und Hans Ulrich mit der St. Galler Managementlehre sorgfältig an der Kybernetik orientiert. Ihre Lehren entstanden etwa zwischen 1950 und 1980 und sind noch immer verlässlich. Es sollte nachdenklich stimmen, warum die besten Managementtheorien nach wie vor nur die Wenigsten kennen.

„Keiner weiß, was Kybernetik ist“, lautet ein Buchtitel aus dem Jahr 1968. Wir schreiben das Jahr 2015 und noch immer weiß fast keiner, was Kybernetik ist. Woran liegt das?

Pruckner: Die Kybernetik entzieht sich der Mundpropaganda. Sie kann außerhalb der Wissenschaft nur durch eine spezielle Didaktik wirksam vermittelt werden, man muss sie erleben. Das ist Expertensache, die in Büchern nicht funktioniert. Durch Lesen allein begreifen die Kybernetik nur wenige; das sind vor allem große Talente im abstrakten und wissenschaftlichem Denken, mit vielfältiger praktischer Erfahrung, die sich sehr gut konzentrieren können, einen guten Zugang zu Genauigkeit, Differenziertheit und ein hohes Vorstellungsvermögen haben.

Sie beweisen immer wieder, dass man mit sehr geringen Mitteln sehr viel bewirken kann. Was steckt da dahinter?

Pruckner: Es ist eine regelrechte Gesetzmäßigkeit, dass die besten Lösungen für komplexe Systeme in der Regel auch die einfachsten und billigsten sind. Zu diesen Lösungen kommt man, wenn man die tatsächlichen Probleme in den versteckten Tiefenstrukturen löst, und nicht die an der Oberfläche sichtbaren; das sind nur ihre Symptome.

Kommende Woche in art €co: Was passiert, wenn man die falschen Probleme löst?

Die Serie im Überblick:

Art €co 0: Was Sie immer schon über Komplexität wissen wollten

Art €co 1: Komplexität – ein Missverständnis

Art €co 2: Komplexität – Fachsprache ist nicht Alltagssprache

Art €co 3: Komplexität ist nicht gleich Komplexität

Art €co 4: Komplexität – Keine Ahnung und trotzdem erfolgreich

Art €co 5: Komplexität – Lösen Sie die falschen Probleme?

Art €co 6: Komplexität, Zwecke und Ziele

Art €co 7: Dumm sterben lassen

Art €co 8: Feedback kann man nicht geben

Art €co 9: Warum Führen so schwierig ist

Art €co 10: Ist es sinnvoll, Macht zu haben?

Art €co 11: Vertrauen hat Vorrang

Art €co 12: Verantwortung – die Quelle des Gelingens

Art €co 13: Meister der Komplexität

Art €co 14: Chefs und Chefinnen

Maria Pruckner ist selbstständige Organisationskybernetikerin und widmet sich seit 1976 dem effektivsten und wirtschaftlichsten Umgang mit Komplexität und ihrer hohen Dynamik in Unternehmen, Institutionen und anderen Organisationen. Sie arbeitet für interne und externe Berater, Führungskräfte und Manager. Viele Jahre war sie strategische Beraterin von Fredmund Malik beim Aufbau seines Malik Management Systems. Auch einige seiner wichtigsten Bücher wurden von ihr überarbeitet bzw. getextet. Ihr fachlicher Werdegang entstand durch ihre langjährige Erfahrung in der Medizin und Pflege, die Entwicklung patientenzentrierter Krankenhausorganisation und kybernetischer Patientendokumentationssysteme. Die Schülerin und enge Vertraute von Heinz von Foerster, einem der wichtigsten Mitbegründer der Kybernetik, zählt aufgrund ihrer Publikationen und Aktivitäten seit Anfang der 1990er zu den internationalen Vorreitern für ein wirksames Arbeiten, Problemlösen und Führen in der Digitalen Ära.

Josef Fritz war 20 Jahre im Top-Management als CEO und CFO im Bankwesen,  Bauindustrie, Tourismus, M&A-Branche, Systemgastronomie und Franchise, Immobilienwesen – und das sowohl in Konzernen als auch in Familienunternehmen tätig. Seit längerem widmet sich der Wirtschaftsavantgardist mit Boardsearch der Suche von Aufsichtsräten, wofür er jahrzehntelange, auch internationale, Erfahrung mitbringt.

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Serie. Cyber-Space, Cyber-Café, Cyber-Attacke. Mit „Cyber“ scheinen wir vertraut zu sein, aber kaum jemand kennt die Wurzel: Cybernetics. Die neue „DiePresse.com“-Serie über Kybernetik als Denk- und Strategieschule.

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