Atomkraft in Japan: Die Angst vor dem nächsten Desaster

Wider Image: A-bomb SurvivorsâAeOe Fukushima Doubts
Wider Image: A-bomb SurvivorsâAeOe Fukushima DoubtsREUTERS
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Trotz des Beschlusses, die stillgelegten Reaktoren wieder hochzufahren, läuft noch kein Block.

Tokio. Seit drei Jahren, das muss Masaki Tsukuda zugeben, hat er das, wofür er sich immer eingesetzt hat. Sein Kampf ging auf der Straße los und führte ihn vor mehr als zehn Jahren ins Stadtparlament von Satsumasendai. Lang hatte der 72-Jährige nicht recht daran geglaubt, aber Mitte 2012 war es plötzlich vollbracht: Die zwei riesigen weißen Zylinder in seiner Heimat hörten auf zu arbeiten. Auch sonst lief in Japan kein Atomreaktor mehr.

„Aber jetzt wird es kritisch“, murrt er in die Runde. In einer Garage in der 100.000-Einwohnerstadt Satsumasendai sind Tische von Flugblättern und Positionspapieren bedeckt. Elf besorgte Bürger, von denen der weißhaarige Masaki Tsukuda einer ist, diskutieren die nächste Widerstandsoperation. Seit Monaten bringen sie hunderte, manchmal tausende Bürger auf die Straße oder vor die verhassten Kernreaktoren.

In der Präfektur Kagoshima, dem Südwestzipfel des japanischen Festlands, soll dieser Tage der erste der 48 Atomreaktoren, die einst ein Viertel des japanischen Energieverbrauchs geliefert haben, wieder hochfahren. Es wäre eine Zeitenwende. Seit am 11.März 2011 zuerst die Erde mit einer ungekannten Stärke gebebt hat, dann über 20 Meter hohe Wellen über die Ostküste hereingebrochen sind, ist nichts mehr wie vorher. In den Tagen darauf havarierte das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Den 20.000 Toten und 300.000 Evakuierten folgte eine Atomkatastrophe, die bis heute nicht unter Kontrolle ist.

Viereinhalb Jahre sind seitdem vergangen, und Japan streitet um seine Atomzukunft. Das heißt: Offiziell wird gar nicht gestritten. Obwohl eine klare Mehrheit der Japaner gegen die Atomkraft ist, gibt sich die Regierung um Premierminister Shinzo Abe unbeeindruckt. „Wir brauchen die Atomkraft“, sagt er. Für seine Wirtschaftspolitik und eine sichere Energieversorgung, die weitgehend sauber sei. „Wir brauchen und wollen sie nicht“, schreien die Gegner: Zu unsicher seien die Kraftwerke, außerdem verfüge das Land über genügend Potenzial für erneuerbare Energien.

Politik ist für Atomkraft

„Wir tun alles, was wir können“, sagt der Sozialdemokrat Masaki Tsukada. Wenn er nicht mit anderen Aktivisten in der Garage sitzt, streitet er in der Stadtvertretung mit den anderen Politikern, von denen die Mehrheit trotz allem für die Atomkraft ist. Immerhin ist der regionale Stromversorger und Kraftwerksbetreiber Kyushu Electric ein wichtiger Arbeitgeber für die Stadt, finanziert zahlreiche Großprojekte, zum Beispiel den modernen Bahnhof. „Viele Politiker lassen sich davon beeindrucken“, murrt Tsukuda.

Zahlenmäßig ist die Opposition in Japan klein, sowohl im Stadtparlament von Satsumasendai als auch in der Präfektur Kagoshima und im nationalen Parlament in Tokio. Theoretisch ist ihr Widerstand auch längst überstimmt. Aber in Japan geschieht dieser Tage etwas Seltsames. Premier Shinzo Abe spricht zwar seit seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren von der schnellstmöglichen Inbetriebnahme der schlummernden Reaktoren. Im Vorjahr gab die Atomregulierungsbehörde, die mit deutlich härteren Auflagen arbeitet als in der Zeit vor dem Desaster von Fukushima, auch erstmals grünes Licht. Dem ersten von zwei Reaktoren in Satsumasendai wurde erlaubt, wieder Kernspaltungen zu machen. Seitdem heißt es immer: In Kürze ist es endlich so weit.

Passiert ist seitdem nichts, bis heute läuft in Japan kein Reaktor. In Kagoshima-Stadt, der Hauptstadt jener Präfektur, in der Satsumasendai liegt, verlässt Makoto Matsuzaki gereizt eine Versammlung der Arbeitsgruppe Atomkraftwerk Sendai. Den „Sicherheitsmythos“, wie sie die Beteuerung der Befürworter nennt, dass man sich auf den Reaktor mit den neuen Auflagen verlassen kann, will die Abgeordnete der Kommunistischen Partei nicht schlucken. „Das Gute ist aber: Wir Atomgegner machen so viel Druck, dass Kyushu Electric und die Regierungen in Kagoshima und Tokio vorsichtig geworden sind.“

Wer legt den Schalter um?

Für die Wiederinbetriebnahme fehlt mittlerweile nichts mehr außer einem Entscheidungsträger, der den Schalter umlegt und dafür geradesteht. Das könnte der Gouverneur sein, ein Manager von Kyushu Electric oder Premier Abe. „Aber es traut sich derzeit niemand“, sagt Matsuzaki. Zu viel ist in der Atomkatastrophe von Fukushima vertuscht und gelogen worden, zu stark ist die Abneigung der Bevölkerung. „Wenn ein Reaktor läuft und es das kleinste Problem gibt, wird das ein Riesenskandal“, sagt Matsuzaki.

Schließlich wird jeden Tag demonstriert: Dabei geht es nicht nur um die grundsätzliche Abneigung gegen Atomkraft, sondern auch konkrete Sicherheitsmängel. Eigentlich soll etwa jede Schule und jedes Krankenhaus im Umkreis von 30 Kilometern Evakuationsrouten haben. In Kagoshima ist dies nur im Zehn-Kilometer-Radius erfüllt. Mehr sei praktisch nicht zu machen, argumentiert die Präfekturregierung. Hinzu kommen die schier unzählbaren Vulkane auf der Insel Kyushu. Die Gegend um Sendai ist denn auch eine der geothermisch aktivsten der Welt.

Einen Tag später steht Masaki Tsukuda mit vielen anderen Atomgegnern vor dem Bahnhof von Satsumasendai. Kommunisten, Sozialdemokraten und auch einige Konservative sind da, in dieser Sache sind sie Verbündete geworden. „Ade Atomkraft!“, heißt es auf einem Schild. Das Gegenteil, die Wiederbelebung des ersten Reaktors, soll nun am 11.August erfolgen. Endgültig, angeblich. Ein neuer Tag null in Japans Energiepolitik? Nicht unbedingt. „Nach 13 Monaten in Betrieb muss der Reaktor für Sicherheitschecks für einen Monat heruntergefahren werden. Dann geht der Kampf weiter“, sagt Makoto Matsuzaki. Als Verlierer sehen sich die offiziell überstimmten Atomkraftgegner aber ohnehin nicht. „Der Wind hat sich gedreht“, sagt Masaki Tsukada. „Vor dem kleinsten Unfall hat jetzt jeder Angst. Und schuld daran will keiner sein.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2015)

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