Tschechische Untaten – aus dem Fenster verfolgt

Androsch erlebte als Kind die Vertreibung der Südmährer mit – Warum er zeitlebens ein Taschenmesser bei sich hat.

In Piesling (Südmähren) erlebte Androsch als Kind bei Verwandten das Ende des Zweiten Weltkriegs. „Zu Ehren der Roten Armee hisste mein Vater – wegen seiner Behinderung kriegsdienstuntauglich –, allerdings unter Missbilligung meines Großonkels, auf dem Haus eine rote Fahne, offenbar hatte er das Hakenkreuz herausgeschnitten. Da das Haus über das einzige Badezimmer im Ort verfügte, wurde es zunehmend auch von russischen Soldaten benutzt, meine Mutter musste und konnte sich als Bademeisterin bewähren.“ Die Situation im Ort spitzte sich zu, als alle Deutschen durch die Beneš-Dekrete vertrieben wurden. „Am Vormittag des 7.Juni 1945 verkündete das ein Dorftrommler.“ Alle Bewohner sollten in zwei Stunden das Dorf verlassen, sie konnten nur das mitnehmen, was sie binnen zweier Stunden am Körper tragend retten konnten. „Mein Großonkel und meine Großtanten zogen an diesem heißen Tag ihr Sonntagsgewand an und küssten die Türschwelle ihres Hauses, in das sie nie mehr zurückkehren sollten.“

„Das darfst du nie vergessen“

Androschs Mutter Lia stellte den Sohn an diesem Unglückstag auf das Fensterbrett: „Bub, schau dir genau an, was hier passiert. Das darfst du nie vergessen.“ Androsch, heute: „Ich habe es nicht vergessen: Auch wenn dieses Unrecht eine Reaktion auf ein früheres, ,gegenteiliges‘ Unrecht war, hat es mich später lange einige Überwindung gekostet, in die Tschechoslowakei zu reisen.“

Als Österreicher wurden ihnen zwei Tage mehr Zeit für die Ausreise gelassen, „die tschechischen Gendarmen gaben uns sogar noch Güter aus dem nun enteigneten Haus meines Großonkels ins Gepäck. Wir reisten über mehrere Zwischenstationen nach Wien zurück, zuerst nach Weikertschlag, dann nach Drosendorf, stets Verbindungen nach Wien suchend. Die gab es zwar, aber die Züge waren so überfüllt, dass sich Menschen sogar auf den Waggondächern drängten, keine Chance auf einen Platz mit einem Kinderwagen. Diese Möglichkeit konnten wir dann in Großsiegharts ergreifen, wohin uns Bekannte mit einem Fuhrwerk gebracht hatten. Aber diese letzte Etappe hätte mich beinahe das Leben gekostet. Der Zug nach Großjedlersdorf war völlig überfüllt, Dutzende Flüchtlinge und Heimkehrer klammerten sich auf den Plattformen und den Dächern an den Zug an. Meine Mutter band mich am Handgelenk und den Kinderwagen samt meiner Schwester mit einem Strick an einem Geländer an, um im Getümmel ein Unglück bei einem der zahlreichen Stopps zu vermeiden. Groß war mein Entsetzen, als sich in Großjedlersdorf das vom Regen durchnässte Seil um meine Hand nicht lösen ließ“.

Fast unter den Zug geraten

„Ein Passagier rettete mich, indem er im letzten Moment vor der Weiterfahrt des Zuges den Knoten mit seinem Messer durchschnitt. Neben mir wurden zwei blutüberströmte Frauen weggetragen – ihnen hatte der Zug die Beine abgetrennt. Seit diesem traumatischen Erlebnis trage ich ein Taschenmesser mit mir – in jedem Anzug, in jeder Freizeithose.“ (hws)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2015)

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